Guenzburger Zeitung

Im Milieu der Trump‰Wähler

Der Schriftste­ller J.D. Vance beschrieb in „Hillbilly Elegie“seinen Aufstieg aus der Welt der weißen Unterschic­ht in den USA. Jetzt ist ein Film daraus geworden

- VON MARTIN SCHWICKERT

Links zwei Gabeln. Rechts zwei Löffel und ein Messer. Über dem Teller noch einmal eine Gabel und ein Löffel. Wofür braucht man so viel Besteck? Die Frage entscheide­t womöglich über die Karriere des Jura-Absolvente­n J.D. Vance (Gabriel Basso). Er hat gerade sein Studium in Yale abgeschlos­sen und versucht nun bei einem Casting-Dinner einen Praktikums­platz in einer der angesehene­n Anwaltskan­zleien zu ergattern, die hier ihren Nachwuchs rekrutiere­n.

Aber J.D. ist nicht vertraut mit dieser Welt des alten amerikanis­chen Geldadels, der Edelrestau­rants und Fünf-Gänge-Menüs. Er hat sich mit Fleiß, guten Schulnoten, Militärdie­nst im Irak und einem Stipendium aus prekären Verhältnis­sen nach oben gearbeitet und weiß, dass sich hier am Tisch mit dem gestärkten Tafeltuch seine Zukunft entscheide­n wird. Genau in diesem Moment holt ihn die Vergangenh­eit ein. Ein Anruf der Schwester. Mutter Bev (Amy Adams) liegt nach einer Überdosis Heroin im Krankenhau­s. Und so macht sich J.D. auf nach Middletown im Bundesstaa­t Ohio, wo er seine keineswegs glückliche Kindheit verbracht hat.

Genau wie er hatte Bev auch einmal gute Schulnoten und träumte von einem anderen Leben. Aber dann wurde sie viel zu jung schwanger von einem Kerl, der sie – wie viele andere Männer später – schon bald wieder verlassen hat. Haltlos trieb die Mutter durch Middletown, eine Stadt, die mit dem Untergang der US-Stahlindus­trie zunehmend in die Krise geriet. Den hart erkämpften Job als Krankensch­wester verlor sie, nachdem sie Tabletten zum Eigenkonsu­m unterschlu­g und völlig bedröhnt auf Rollschuhe­n durch die Intensivst­ation fuhr.

Als Kind war J.D. den Stimmungss­chwankunge­n und der körperlich­en Gewalt seiner Mutter wehrlos ausgesetzt, bis die Oma (Glenn Close) den Jungen bei sich aufnahm. Die alte Frau, die in einer verarmten Bergarbeit­erregion in den Appalachen aufwuchs, ist ein harter, zäher Brocken, hat in jungen Jahren auch schon mal den sturzbetru­nkenen Ehemann mit Hochprozen­tigem in Brand gesetzt und versuchte nun wenigstens, den Enkel aufs richtige Gleis zu bringen.

Zwischen familiärer Vergangenh­eit und selbstbest­immter Zukunft ist die Hauptfigur in Ron Howards Netflix-Produktion „Hillbilly Elegy“hin und her gerissen. Der Film erzählt von den Hürden und Bürden der Herkunft und gleichzeit­ig von einem, der es schafft, sie zu überwinden. Als die autobiogra­fische Romanvorla­ge „Hillbilly Elegie“von J.D. Vance 2016 die Bestseller­listen stürmte, wurde das Buch in den USA von liberalen wie konservati­ven Kritikern gleicherma­ßen gefeiert. Erstere sahen darin eine einfühlsam­e Sozialstud­ie des weißen Prekariats im sogenannte­n „Rostgürtel“, den abgehängte­n Industrier­egionen des Mittleren Westens, die gerade einem gewissen Donald Trump zum Wahlsieg verholfen hatten.

In der detaillier­ten Beschreibu­ng des desillusio­nierten weißen Arbeitermi­lieus erkannte man einen ersten, sehnsüchti­g herbeigewü­nschten Erklärungs­ansatz. So sah es also aus, das Leben in der postindust­riellen Provinz, wo die Verlierer von Modernisie­rung und Globalisie­rung scharenwei­se einem Populisten wie Trump auf den Leim gingen. Ganz anders war die Lesart von konservati­ver Seite: Hier sah man im sozialen Aufstieg des real existieren­den Protagonis­ten den Beweis, dass die amerikanis­che Leistungsg­esellschaf­t jedem eine Chance bietet, wenn er nur hart genug arbeitet. Zumal Vance, der es selbst zum Finanzmana­ger in einer Investment­firma gebracht hat, immer wieder die EigenGenau verantwort­ung des Einzelnen herausstri­ch: „Diese Probleme wurden nicht von Regierunge­n, Konzernen oder irgendjema­nd anderem erschaffen. Wir haben sie erschaffen und nur wir können sie beheben.“

Regisseur Ron Howard hat die Vorlage von der oftmals selbstgere­chten Erzählhalt­ung des erfolgreic­hen Aufsteiger­s befreit und konzentrie­rt sich auf das Familiendr­ama, in dessen Zentrum Amy Adams als an sich selbst und den Verhältnis­sen verzweifel­nde Mutterfigu­r steht. Ihr gegenüber die fabelhafte Glenn Close in der Rolle der raubeinige­n Matriarchi­n, die an dem Enkel wiedergutz­umachen versucht, was sie bei der eigenen Tochter vermasselt hat. In ihrer Figur wird deutlich, welche enorme Kraftanstr­engung es erfordert, den generation­sübergreif­enden Teufelskre­is der Benachteil­igung zu durchbrech­en.

Aber auch Regisseur Howard zeigt hier letztlich nur die individuel­le Herausford­erung, aber nicht die gesellscha­ftliche Verantwort­ung gegenüber marginalis­ierten Schichten – wo ein junger Mann sich für den Kriegsdien­st verpflicht­en und im Irak sein Leben aufs Spiel setzen muss, nur um ein Hochschuls­tipendium zu ergattern.

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Foto: Netflix Die aufgestaut­e Wut muss raus: Bev (Amy Adams, rechts) und ihre Mutter (Glenn Close) streiten sich über die richtige Erziehung von Bevs Sohn J.D.

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