Wie die Silvesternacht 2015 das Land verändert hat
Vor fünf Jahren belästigten in Köln einige hundert Männer massiv feiernde Frauen. Die Polizei versagte. Nur wenige Täter wurden verurteilt, viele Opfer leiden heute noch. Und in Deutschland änderten sich nicht nur Gesetze
Köln Silvester wird anders. 2020 ist es ein Virus, das uns paralysiert. Vor fünf Jahren aber erlebte Deutschland schon einmal schwer Begreifliches – die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht. 2015 kam es zum Jahreswechsel vor dem Hauptbahnhof zu massenhaft sexuellen Übergriffen. Nur wenige Täter wurden später verurteilt. Die Bilder jener Nacht sind bis heute in den Köpfen. Aber was hat sich seitdem getan? Eine Rekonstruktion.
Die Opfer und die Täter
Die Auszubildende weint, als sie im Verhandlungssaal 10 des Kölner Justizgebäudes über jene Nacht spricht. Der Angreifer habe sie in den Schwitzkasten genommen, auf den Mund geküsst. Als sie sich wehrte, habe er über ihr Gesicht geleckt. „Die Zeugin, die Ekel empfand, versuchte, sich aus der Situation zu befreien“, heißt es später in der Urteilsschrift. „Dies gelang ihr jedoch nicht, da der Angeklagte sie weiterhin festhielt.“
Der Angeklagte ist der damals 21-jährige Iraker Hussein A., Sohn eines Tischlers, 2014 über die Balkanroute nach Deutschland gekommen. Am 31. Dezember 2015 war er gemeinsam mit seinem Kumpel, dem Algerier Hassan T., nach Köln gefahren. Seine Sprachkenntnisse reichten, um an diesem Abend das spätere Opfer aus Siegen zu bitten, gemeinsame Fotos zu machen. Ein Vorgang, der den beiden Männern zum Verhängnis wurde. Anhand der Handybilder konnten Hussein A. und Hassan T. identifiziert werden. T. hatte einer Freundin der Frau brutal in den Schritt gefasst. „Wie Tiere“seien die Männer auf ihr Opfer losgegangen, schilderten Zeugen den Sachverhalt später.
A. und T. sind die einzigen der 355 Beschuldigten, die am Ende wegen sexueller Nötigung verurteilt wurden. Das Gericht beließ es bei Bewährungsstrafen von einem Jahr. Als Hussein A. damals das Justizgebäude verließ, war er guter Dinge. „Ich hab nix gemacht“, rief er lachend den Journalisten zu.
Die Übergriffe stellten die Ermittler nach der Silvesternacht vor eine Herkulesaufgabe. Mehr als 1210 Anzeigen mussten sie nachgehen, 1200 Stunden Videomaterial auswerten. DNA-Spuren und Fingerabdrücke fehlten. Die Erfolgsquote sei eine „Katastrophe“, heißt es aus Düsseldorfer Regierungskreisen. „Man muss die Taten auch beweisen können, und das war oft leider nicht möglich“, sagt NordrheinWestfalens Innenminister Herbert Reul (CDU). „Das grobkörnige Videomaterial der am Bahnhof aufgestellten Kameras war schlicht unbrauchbar, um Verdächtige gezielt identifizieren zu können“, berichtet Ulrich Bremer, Sprecher der Staatsanwaltschaft. Auch von Scotland Yard entsandte Beamte, sogenannte „Super-Recognizer“, brachten keinen Durchbruch. „Die brauchbarsten Hinweise stammten noch von Handyaufnahmen einiger Zeugen.“
Die Opfer seien aufgrund des Tumultgeschehens fast durchgängig nicht in der Lage gewesen, Täter auf Lichtbildern identifizieren zu können. Viele Verdächtige hätten von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht. „All dies verbunden mit den nicht ausreichenden Personalienfeststellungen durch die Polizei hat die Sachverhaltsaufklärung ungemein erschwert“, erläutert Bremer.
Die Spur der Täter von damals hat sich verloren. Männer, die erneut straffällig wurden, seien zum Teil abgeschoben worden, hört man aus Justizkreisen. Viele Frauen, die damals öffentlich sprachen, wollen sich nicht mehr äußern. Monika Kleine, Geschäftsführerin des Sozialdienstes Katholischer Frauen in Köln, sieht in der Silvesternacht auch den Startpunkt für einen Paradigmenwechsel. Vorneweg sei dabei die Verschärfung des Sexualstrafrechtes zu nennen, beschlossen im Sommer 2016. „Inzwischen lassen die Kriminalstatistiken vermuten, dass immer mehr Opfer von Übergriffen und Grenzüberschreitungen die Taten zur Anzeige bringen.“
Die Stadt
So etwas kann nur in Köln passieren – das war nach den Ereignissen der Silvesternacht 2015 nicht selten zu hören. Kein Wunder, hatte sich Köln doch seinen Ruf als Partystadt durch konsequenten Ausbau seiner populären Großereignisse verdient. Karneval, Christopher Street Day, der Sessionsauftakt am 11.11. – gefeiert wurde eigentlich immer. Und immer größer. Manches Stadtoberhaupt – damals wie heute war die parteilose Henriette Reker Oberbürgermeisterin – sah die Eventisierung Kölns mit Sorge, schon weil die Menschenmassen natürlich ihre Spuren hinterließen und so das leicht schmuddelige Bild der Stadt noch verstärkten. Doch die konsequente Kommerzialisierung all dieser Events konnten auch sie nicht stoppen. Zumal Stadtoberhäupter ja auch prominente Akteure waren bei fast jeder Großveranstaltung.
Die Megaevents waren nur ein Teil des Problems. Junggesellenabschiede, Mannschaftstouren und andere feierwillige Gruppen fluteten unentwegt die Altstadt und die Partyzonen Kölns – die inzwischen untersagten „Biermobile“waren ein unschönes Symbol für diesen Trend. So richtig die Sau rauslassen – das war für nicht wenige das ausschlaggebende Kriterium, in Köln zu feiern.
Nun gab es in jener Silvesternacht Übergriffe nicht nur in Köln, sondern auch in Bielefeld, Stuttgart und Hamburg. Die mit Abstand meisten Fälle passierten jedoch in der Karnevalshochburg.
Dass sich der weltweit schlechte Ruf Kölns inzwischen verbessert hat, liegt auch am Engagement aller Akteure ab 2016: Stadt und Polizei konzentrierten sich mit personell und finanziell großem Einsatz darauf, die folgenden Silvesternächte neu zu strukturieren, in der Innenstadt Konzerte und Lichtprojektionen zu veranstalten, gleichzeitig aber auch die Besucher streng zu kontrollieren und zu überwachen.
Auch die Karnevalsvereine überprüften ihre Konzepte – zum einen mit Blick auf die Sicherheit der Besucher, aber auch mit der Zielrichtung, alternative Angebote jenseits der großen Bühnen zu finden. Doch die Gefahr, dass Großstädte – nicht nur Köln – in schlechtes Licht geraten, ist nicht gebannt, die Ausschreitungen und Plünderungen im Stuttgarter Schlossgarten im Sommer dieses Jahres zeigen es.
Die Polizei
Hunderte junger Männer, fliegende Feuerwerksraketen und davor, in der Dunkelheit des Bahnhofsvorplatzes, eine Handvoll Polizisten. Sie „überfordert“zu nennen, wäre kein Ausdruck. Die Bilder des staatlichen Kontrollverlusts blieben im Gedächtnis der Stadt. Aber die Silvesternacht war nur eine Etappe des Polizeiversagens dieser Tage, das auch einen Polizeipräsidenten in den einstweiligen Ruhestand und die Einsatzleiter vor den Untersuchungsausschuss des Landtags brachte. Die Silvesternacht wurde zur Zäsur für Kölns Polizei.
Im Dezember 2020 sitzen Kriminaldirektor Klaus Zimmermann und Pressesprecher Wolfgang Baldes in der fünften Etage des Präsidiums in Kalk. Ob er den Kölnern sagen wolle, dass so etwas nicht noch einmal passieren werde, wird Zimmermann gefragt. Nein, will er nicht. „Die Silvesternacht 2015 wird sich in Köln aus Planungssicht der Polizei so nicht wiederholen, aber wir können nicht vorhersehen, wohin sich die Gesellschaft entwickelt“, sagt Zimmermann. Er redet viel von sozialen Veränderungen in der Bevölkerung, mit denen es die Polizei zu tun hat. Frühzeitiger einzugreifen, bevor „irgendetwas aus den Fugen gerät“, sei eine der Lehren aus 2015. „Dass wir Fehler gemacht haben, steht fest – dass wir daraus gelernt haben, haben wir in den vergangenen fünf Jahren bewiesen.“
In der folgenden Silvesternacht bahnten sich ähnliche Szenen wie 2015 an, doch die Polizei griff früh ein, kontrollierte hunderte junge Männer, meist arabischer Herkunft, vor dem Bahnhof und schon in den Zügen, was ihr tags darauf den Vorwurf des ausländerfeindlichen „Racial Profiling“einbrachte. Man habe den Einsatz mit Gewaltforschern, Streetworkern und Islamwissenschaftlern analysiert, sagt Zimmermann. „Wir haben uns damit auseinandergesetzt, wie Menschen, die aus Ländern mit einer anderen Polizeikultur kommen, eine rechtsstaatliche Polizei wahrnehmen, die erst einmal ermahnt oder nicht sofort einschreitet. Wenn Polizei dann als schwach erlebt wird, kann das Folgen für das Verhalten haben.“
Starke Präsenz – Silvester 2016 waren etwa 1500 Beamte im Einsatz –, entschiedeneres Eingreifen: All das fehlte 2015, bestimmt aber seither die Polizeiarbeit. Im Alltag habe sich das schnell bewährt, sagt Baldes. „Mittlerweile hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt, dass wir nicht zuschauen, wenn die Dinge aus der Bahn geraten.“
Eine Folge von Silvester 2015 waren auch die Videokameras, die nun Bahnhofsvorplatz und weitere Brennpunkte beobachten. Die Kommunikation bei Großlagen ist überdies enger geworden. 2015 waren die Einsatzleiter von Bundespolizei und Ordnungsamt kaum erreichbar oder schon im Feierabend, als die Situation eskalierte. „Bei größeren Einsätzen sind wir inzwischen im Leitungsgremium bei der Stadt vertreten und in unserem Führungsstab sind Verbindungsbeamte der Bundespolizei, wenn der Bahnhof betroffen ist. Auch vor Ort sind die Entscheidungsträger viel enger im Kontakt“, sagt Zimmermann.
Ihre Lehren gezogen hat die Polizei auch aus der Wirkung, die die Pressemitteilung vom Neujahrsmorgen 2016 entfachte, in der die Situation fast schon in obszöner Weise verharmlost wurde, weil der Pressestelle schlicht die Informationen fehlten. Pressesprecher Baldes spricht von einer großen Veränderung der Öffentlichkeitsarbeit. „Wir verzichten auf wertende Adjektive. Was ist denn eine ,friedliche‘ Silvesternacht, oder ein ,gelungener‘ Polizeieinsatz?“, fragt er. „In solchen Dingen sind wir hypersensibel geworden. Jedes Wort steht auf dem Prüfstand, damit die Meldungen nicht mehr angreifbar sind.“
Die Medien
Sollen Medien bei Straftaten die Herkunft der Täter oder Tatverdächtigen nennen? Diese Frage wurde im Anschluss an die Silvesternacht kontrovers diskutiert. Die einen warfen der Presse Zensur vor, weil sie die Herkunft der Täter nicht oder erst spät genannt habe. Andere fürchteten die Diskriminierung einer ganzen Gruppe durch die Taten Einzelner, sollten die Medien ihr Vorgehen ändern und künftig immer die Herkunft nennen.
Im Pressekodex, einer Sammlung journalistisch-ethischer Grundregeln, den der Deutsche Presserat erstellt hat, hieß es zum damaligen Zeitpunkt: „In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“Doch besonders die Formulierung „begründbarer Sachbezug“geriet in die Kritik. Zu schwammig war sie vielen. Es wurde über eine Änderung diskutiert. Doch im März 2016 votierte der Presserat – damals unter der Führung Lutz Tillmanns’ – mit einer deutlichen Mehrheit gegen eine Änderung oder Streichung des Abschnitts. Den „Vorwurf des Verschweigens und der Zensur“wies die Organisation zurück. Der Presserat sei nicht Vormund von Journalisten und Medien, er gebe nur Orientierungen: „Es gibt kein Verbot, die Herkunft von Straftätern und Tatverdächtigen zu nennen.“Doch der öffentliche Druck blieb. Im März 2017 entschied der Presserat, den Passus zu überarbeiten. In der neuen Fassung lautet die entscheidende Änderung: „In der Berichterstattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse.“
Der Ministerpräsident
Fünf Jahre nach den Ereignissen entschuldigt sich Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet bei den Opfern. In einem Gastbeitrag für den Kölner StadtAnzeiger am Dienstag beschreibt der CDU-Politiker es als „Pflicht, die Opfer um Verzeihung zu bitten, dass der Staat sie in jener Nacht nicht beschützt hat – egal wer damals politisch Verantwortung trug.“Laschet selbst war 2015 noch nicht im Amt. Bis 2017 hatten in Nordrhein-Westfalen SPD und Grüne regiert – mit Hannelore Kraft als Ministerpräsidentin.
Laschet hatte schon in der Vergangenheit von eklatanten Versäumnissen gesprochen und wiederholt das in seinem Beitrag. Dass es bei mehr als 1200 Anzeigen nur 36 Verurteilungen gegeben habe und nur drei Männer wegen Sexualstraftaten verurteilt worden sind, sei eine „bittere Bilanz“, urteilt er. „661 Frauen haben vor fünf Jahren in Köln einen Albtraum durchlebt, viele von ihnen leiden bis heute unter den Folgen. 661 Frauen wurden in dieser Nacht vom Staat im Stich gelassen.“