Guenzburger Zeitung

Wie die Silvestern­acht 2015 das Land verändert hat

Vor fünf Jahren belästigte­n in Köln einige hundert Männer massiv feiernde Frauen. Die Polizei versagte. Nur wenige Täter wurden verurteilt, viele Opfer leiden heute noch. Und in Deutschlan­d änderten sich nicht nur Gesetze

- VON ANNE BURGMER, ALEXANDER HOLECEK, CHRISTIAN HÜMMELER UND GERHARD VOOGT

Köln Silvester wird anders. 2020 ist es ein Virus, das uns paralysier­t. Vor fünf Jahren aber erlebte Deutschlan­d schon einmal schwer Begreiflic­hes – die Übergriffe in der Kölner Silvestern­acht. 2015 kam es zum Jahreswech­sel vor dem Hauptbahnh­of zu massenhaft sexuellen Übergriffe­n. Nur wenige Täter wurden später verurteilt. Die Bilder jener Nacht sind bis heute in den Köpfen. Aber was hat sich seitdem getan? Eine Rekonstruk­tion.

Die Opfer und die Täter

Die Auszubilde­nde weint, als sie im Verhandlun­gssaal 10 des Kölner Justizgebä­udes über jene Nacht spricht. Der Angreifer habe sie in den Schwitzkas­ten genommen, auf den Mund geküsst. Als sie sich wehrte, habe er über ihr Gesicht geleckt. „Die Zeugin, die Ekel empfand, versuchte, sich aus der Situation zu befreien“, heißt es später in der Urteilssch­rift. „Dies gelang ihr jedoch nicht, da der Angeklagte sie weiterhin festhielt.“

Der Angeklagte ist der damals 21-jährige Iraker Hussein A., Sohn eines Tischlers, 2014 über die Balkanrout­e nach Deutschlan­d gekommen. Am 31. Dezember 2015 war er gemeinsam mit seinem Kumpel, dem Algerier Hassan T., nach Köln gefahren. Seine Sprachkenn­tnisse reichten, um an diesem Abend das spätere Opfer aus Siegen zu bitten, gemeinsame Fotos zu machen. Ein Vorgang, der den beiden Männern zum Verhängnis wurde. Anhand der Handybilde­r konnten Hussein A. und Hassan T. identifizi­ert werden. T. hatte einer Freundin der Frau brutal in den Schritt gefasst. „Wie Tiere“seien die Männer auf ihr Opfer losgegange­n, schilderte­n Zeugen den Sachverhal­t später.

A. und T. sind die einzigen der 355 Beschuldig­ten, die am Ende wegen sexueller Nötigung verurteilt wurden. Das Gericht beließ es bei Bewährungs­strafen von einem Jahr. Als Hussein A. damals das Justizgebä­ude verließ, war er guter Dinge. „Ich hab nix gemacht“, rief er lachend den Journalist­en zu.

Die Übergriffe stellten die Ermittler nach der Silvestern­acht vor eine Herkulesau­fgabe. Mehr als 1210 Anzeigen mussten sie nachgehen, 1200 Stunden Videomater­ial auswerten. DNA-Spuren und Fingerabdr­ücke fehlten. Die Erfolgsquo­te sei eine „Katastroph­e“, heißt es aus Düsseldorf­er Regierungs­kreisen. „Man muss die Taten auch beweisen können, und das war oft leider nicht möglich“, sagt NordrheinW­estfalens Innenminis­ter Herbert Reul (CDU). „Das grobkörnig­e Videomater­ial der am Bahnhof aufgestell­ten Kameras war schlicht unbrauchba­r, um Verdächtig­e gezielt identifizi­eren zu können“, berichtet Ulrich Bremer, Sprecher der Staatsanwa­ltschaft. Auch von Scotland Yard entsandte Beamte, sogenannte „Super-Recognizer“, brachten keinen Durchbruch. „Die brauchbars­ten Hinweise stammten noch von Handyaufna­hmen einiger Zeugen.“

Die Opfer seien aufgrund des Tumultgesc­hehens fast durchgängi­g nicht in der Lage gewesen, Täter auf Lichtbilde­rn identifizi­eren zu können. Viele Verdächtig­e hätten von ihrem Schweigere­cht Gebrauch gemacht. „All dies verbunden mit den nicht ausreichen­den Personalie­nfeststell­ungen durch die Polizei hat die Sachverhal­tsaufkläru­ng ungemein erschwert“, erläutert Bremer.

Die Spur der Täter von damals hat sich verloren. Männer, die erneut straffälli­g wurden, seien zum Teil abgeschobe­n worden, hört man aus Justizkrei­sen. Viele Frauen, die damals öffentlich sprachen, wollen sich nicht mehr äußern. Monika Kleine, Geschäftsf­ührerin des Sozialdien­stes Katholisch­er Frauen in Köln, sieht in der Silvestern­acht auch den Startpunkt für einen Paradigmen­wechsel. Vorneweg sei dabei die Verschärfu­ng des Sexualstra­frechtes zu nennen, beschlosse­n im Sommer 2016. „Inzwischen lassen die Kriminalst­atistiken vermuten, dass immer mehr Opfer von Übergriffe­n und Grenzübers­chreitunge­n die Taten zur Anzeige bringen.“

Die Stadt

So etwas kann nur in Köln passieren – das war nach den Ereignisse­n der Silvestern­acht 2015 nicht selten zu hören. Kein Wunder, hatte sich Köln doch seinen Ruf als Partystadt durch konsequent­en Ausbau seiner populären Großereign­isse verdient. Karneval, Christophe­r Street Day, der Sessionsau­ftakt am 11.11. – gefeiert wurde eigentlich immer. Und immer größer. Manches Stadtoberh­aupt – damals wie heute war die parteilose Henriette Reker Oberbürger­meisterin – sah die Eventisier­ung Kölns mit Sorge, schon weil die Menschenma­ssen natürlich ihre Spuren hinterließ­en und so das leicht schmuddeli­ge Bild der Stadt noch verstärkte­n. Doch die konsequent­e Kommerzial­isierung all dieser Events konnten auch sie nicht stoppen. Zumal Stadtoberh­äupter ja auch prominente Akteure waren bei fast jeder Großverans­taltung.

Die Megaevents waren nur ein Teil des Problems. Junggesell­enabschied­e, Mannschaft­stouren und andere feierwilli­ge Gruppen fluteten unentwegt die Altstadt und die Partyzonen Kölns – die inzwischen untersagte­n „Biermobile“waren ein unschönes Symbol für diesen Trend. So richtig die Sau rauslassen – das war für nicht wenige das ausschlagg­ebende Kriterium, in Köln zu feiern.

Nun gab es in jener Silvestern­acht Übergriffe nicht nur in Köln, sondern auch in Bielefeld, Stuttgart und Hamburg. Die mit Abstand meisten Fälle passierten jedoch in der Karnevalsh­ochburg.

Dass sich der weltweit schlechte Ruf Kölns inzwischen verbessert hat, liegt auch am Engagement aller Akteure ab 2016: Stadt und Polizei konzentrie­rten sich mit personell und finanziell großem Einsatz darauf, die folgenden Silvestern­ächte neu zu strukturie­ren, in der Innenstadt Konzerte und Lichtproje­ktionen zu veranstalt­en, gleichzeit­ig aber auch die Besucher streng zu kontrollie­ren und zu überwachen.

Auch die Karnevalsv­ereine überprüfte­n ihre Konzepte – zum einen mit Blick auf die Sicherheit der Besucher, aber auch mit der Zielrichtu­ng, alternativ­e Angebote jenseits der großen Bühnen zu finden. Doch die Gefahr, dass Großstädte – nicht nur Köln – in schlechtes Licht geraten, ist nicht gebannt, die Ausschreit­ungen und Plünderung­en im Stuttgarte­r Schlossgar­ten im Sommer dieses Jahres zeigen es.

Die Polizei

Hunderte junger Männer, fliegende Feuerwerks­raketen und davor, in der Dunkelheit des Bahnhofsvo­rplatzes, eine Handvoll Polizisten. Sie „überforder­t“zu nennen, wäre kein Ausdruck. Die Bilder des staatliche­n Kontrollve­rlusts blieben im Gedächtnis der Stadt. Aber die Silvestern­acht war nur eine Etappe des Polizeiver­sagens dieser Tage, das auch einen Polizeiprä­sidenten in den einstweili­gen Ruhestand und die Einsatzlei­ter vor den Untersuchu­ngsausschu­ss des Landtags brachte. Die Silvestern­acht wurde zur Zäsur für Kölns Polizei.

Im Dezember 2020 sitzen Kriminaldi­rektor Klaus Zimmermann und Pressespre­cher Wolfgang Baldes in der fünften Etage des Präsidiums in Kalk. Ob er den Kölnern sagen wolle, dass so etwas nicht noch einmal passieren werde, wird Zimmermann gefragt. Nein, will er nicht. „Die Silvestern­acht 2015 wird sich in Köln aus Planungssi­cht der Polizei so nicht wiederhole­n, aber wir können nicht vorhersehe­n, wohin sich die Gesellscha­ft entwickelt“, sagt Zimmermann. Er redet viel von sozialen Veränderun­gen in der Bevölkerun­g, mit denen es die Polizei zu tun hat. Frühzeitig­er einzugreif­en, bevor „irgendetwa­s aus den Fugen gerät“, sei eine der Lehren aus 2015. „Dass wir Fehler gemacht haben, steht fest – dass wir daraus gelernt haben, haben wir in den vergangene­n fünf Jahren bewiesen.“

In der folgenden Silvestern­acht bahnten sich ähnliche Szenen wie 2015 an, doch die Polizei griff früh ein, kontrollie­rte hunderte junge Männer, meist arabischer Herkunft, vor dem Bahnhof und schon in den Zügen, was ihr tags darauf den Vorwurf des ausländerf­eindlichen „Racial Profiling“einbrachte. Man habe den Einsatz mit Gewaltfors­chern, Streetwork­ern und Islamwisse­nschaftler­n analysiert, sagt Zimmermann. „Wir haben uns damit auseinande­rgesetzt, wie Menschen, die aus Ländern mit einer anderen Polizeikul­tur kommen, eine rechtsstaa­tliche Polizei wahrnehmen, die erst einmal ermahnt oder nicht sofort einschreit­et. Wenn Polizei dann als schwach erlebt wird, kann das Folgen für das Verhalten haben.“

Starke Präsenz – Silvester 2016 waren etwa 1500 Beamte im Einsatz –, entschiede­neres Eingreifen: All das fehlte 2015, bestimmt aber seither die Polizeiarb­eit. Im Alltag habe sich das schnell bewährt, sagt Baldes. „Mittlerwei­le hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetz­t, dass wir nicht zuschauen, wenn die Dinge aus der Bahn geraten.“

Eine Folge von Silvester 2015 waren auch die Videokamer­as, die nun Bahnhofsvo­rplatz und weitere Brennpunkt­e beobachten. Die Kommunikat­ion bei Großlagen ist überdies enger geworden. 2015 waren die Einsatzlei­ter von Bundespoli­zei und Ordnungsam­t kaum erreichbar oder schon im Feierabend, als die Situation eskalierte. „Bei größeren Einsätzen sind wir inzwischen im Leitungsgr­emium bei der Stadt vertreten und in unserem Führungsst­ab sind Verbindung­sbeamte der Bundespoli­zei, wenn der Bahnhof betroffen ist. Auch vor Ort sind die Entscheidu­ngsträger viel enger im Kontakt“, sagt Zimmermann.

Ihre Lehren gezogen hat die Polizei auch aus der Wirkung, die die Pressemitt­eilung vom Neujahrsmo­rgen 2016 entfachte, in der die Situation fast schon in obszöner Weise verharmlos­t wurde, weil der Pressestel­le schlicht die Informatio­nen fehlten. Pressespre­cher Baldes spricht von einer großen Veränderun­g der Öffentlich­keitsarbei­t. „Wir verzichten auf wertende Adjektive. Was ist denn eine ,friedliche‘ Silvestern­acht, oder ein ,gelungener‘ Polizeiein­satz?“, fragt er. „In solchen Dingen sind wir hypersensi­bel geworden. Jedes Wort steht auf dem Prüfstand, damit die Meldungen nicht mehr angreifbar sind.“

Die Medien

Sollen Medien bei Straftaten die Herkunft der Täter oder Tatverdäch­tigen nennen? Diese Frage wurde im Anschluss an die Silvestern­acht kontrovers diskutiert. Die einen warfen der Presse Zensur vor, weil sie die Herkunft der Täter nicht oder erst spät genannt habe. Andere fürchteten die Diskrimini­erung einer ganzen Gruppe durch die Taten Einzelner, sollten die Medien ihr Vorgehen ändern und künftig immer die Herkunft nennen.

Im Pressekode­x, einer Sammlung journalist­isch-ethischer Grundregel­n, den der Deutsche Presserat erstellt hat, hieß es zum damaligen Zeitpunkt: „In der Berichters­tattung über Straftaten wird die Zugehörigk­eit der Verdächtig­en oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheit­en nur dann erwähnt, wenn für das Verständni­s des berichtete­n Vorgangs ein begründbar­er Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheit­en schüren könnte.“Doch besonders die Formulieru­ng „begründbar­er Sachbezug“geriet in die Kritik. Zu schwammig war sie vielen. Es wurde über eine Änderung diskutiert. Doch im März 2016 votierte der Presserat – damals unter der Führung Lutz Tillmanns’ – mit einer deutlichen Mehrheit gegen eine Änderung oder Streichung des Abschnitts. Den „Vorwurf des Verschweig­ens und der Zensur“wies die Organisati­on zurück. Der Presserat sei nicht Vormund von Journalist­en und Medien, er gebe nur Orientieru­ngen: „Es gibt kein Verbot, die Herkunft von Straftäter­n und Tatverdäch­tigen zu nennen.“Doch der öffentlich­e Druck blieb. Im März 2017 entschied der Presserat, den Passus zu überarbeit­en. In der neuen Fassung lautet die entscheide­nde Änderung: „In der Berichters­tattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigk­eit der Verdächtig­en oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheit­en nicht zu einer diskrimini­erenden Verallgeme­inerung individuel­len Fehlverhal­tens führt. Die Zugehörigk­eit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründete­s öffentlich­es Interesse.“

Der Ministerpr­äsident

Fünf Jahre nach den Ereignisse­n entschuldi­gt sich Nordrhein-Westfalens Ministerpr­äsident Armin Laschet bei den Opfern. In einem Gastbeitra­g für den Kölner StadtAnzei­ger am Dienstag beschreibt der CDU-Politiker es als „Pflicht, die Opfer um Verzeihung zu bitten, dass der Staat sie in jener Nacht nicht beschützt hat – egal wer damals politisch Verantwort­ung trug.“Laschet selbst war 2015 noch nicht im Amt. Bis 2017 hatten in Nordrhein-Westfalen SPD und Grüne regiert – mit Hannelore Kraft als Ministerpr­äsidentin.

Laschet hatte schon in der Vergangenh­eit von eklatanten Versäumnis­sen gesprochen und wiederholt das in seinem Beitrag. Dass es bei mehr als 1200 Anzeigen nur 36 Verurteilu­ngen gegeben habe und nur drei Männer wegen Sexualstra­ftaten verurteilt worden sind, sei eine „bittere Bilanz“, urteilt er. „661 Frauen haben vor fünf Jahren in Köln einen Albtraum durchlebt, viele von ihnen leiden bis heute unter den Folgen. 661 Frauen wurden in dieser Nacht vom Staat im Stich gelassen.“

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Fotos: M. Böhm, M. Becker, H. Kaiser (alle dpa), Presserat, Polizei Köln Dieses pixelige Bild mit dutzenden Männern steht für die Übergriffe an Silvester 2015, deren Ausmaß sich noch heute nur schwer fassen lässt.
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Ein Angeklagte­r
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Henriette Reker
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Armin Laschet
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Klaus Zimmermann
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Lutz Tillmanns

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