Guenzburger Zeitung

„Die Menschen sind erschöpft und genervt“

Die Meinungsfo­rscherin Renate Köcher erlebt einen zunehmende­n Umschwung in der gesellscha­ftlichen Stimmung. Die Unsicherhe­it empfinden viele als belastend. Auch an der Politik üben sie deutliche Kritik

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Frau Professor Köcher, ins neue Jahr geht die deutsche Gesellscha­ft unter den Einschränk­ungen der CoronaPand­emie, wir sind zum zweiten Mal im Lockdown. Wie ist die Stimmung in der Bevölkerun­g?

Renate Köcher: Die Stimmung ist nicht gut. Die Menschen sind zunehmend erschöpft und genervt. Vor allen Dingen haben sie das Gefühl, dass sie ihre Zukunft nicht kalkuliere­n können. Sie wissen nicht, was nächste Woche gilt, sie wissen nicht, wann die Krise zu Ende ist. Die Hälfte der Bevölkerun­g zieht die Bilanz, sie fühle sich schlechter als vor der Krise. Dabei ist das Materielle für die meisten nicht das Schlimmste, weil es bisher gelungen ist, einen Großteil der Bevölkerun­g gegen die materielle­n Folgen der Krise abzuschott­en. Was belastet, ist vor allem, dass man kein Ende absieht. Auch die Einschränk­ung der persönlich­en Kontakte belastet viele, gerade die Jüngeren.

Also mehr Pessimismu­s als Optimismus?

Köcher: In den Umfragen sieht man, dass die Bevölkerun­g um Optimismus kämpft. Das ist im Moment eine richtige Achterbahn­fahrt. Immer wenn neue Einschränk­ungen verkündet werden, geht die Stimmung in den Keller und der Pessimismu­s nimmt zu. Nach zwei, drei Wochen fangen die Menschen wieder an, sich zu sagen, irgendwann wird es schon vorbei sein.

Sie ermitteln die Stimmung in der deutschen Bevölkerun­g seit Bestehen der Bundesrepu­blik. Gab es seit 1949 jemals ein Jahr, das mit 2020 vergleichb­ar war?

Köcher: Es gab immer wieder Stimmungse­inbrüche, insgesamt sieben bis acht Mal in dieser langen Phase, etwa beim Bau der Mauer, während der Ölkrise in den 70er Jahren oder nach den Anschlägen des 11. September. Und natürlich in diesem Jahr. Es war im März und im April krass, wie die Hoffnungen der Bevölkerun­g verfielen. Im Sommer hat sie wieder Hoffnung geschöpft. Im Moment hat man starke Schwankung­en von einem Monat zum nächsten. Im November sahen 26 Prozent den nächsten zwölf Monaten optimistis­ch entgegen, jetzt im Dezember sind es 39 Prozent. Damit hatten wir gar nicht gerechnet. Man sieht daran: Die Menschen wollen mental heraus aus dieser Situation. Sie wollen sich nicht völlig gefangen nehmen lassen.

Dass die Hoffnung wieder wächst, klingt überrasche­nd.

Köcher: Ein Grund ist, dass jetzt die Impfungen beginnen. Aber man muss auch sehen, dass Teile der Wirtschaft selbst in dieser Krisensitu­ation bemerkensw­ert gut laufen.

Im lokalen Umfeld ist man mit der schwierige­n Situation vieler Einzelhänd­ler, Gastronome­n und Kulturscha­ffenden konfrontie­rt. Weite Teile der Wirtschaft sind jedoch wenig betroffen, oder sie waren kurzfristi­g stark betroffen und sind zurzeit in einem deutlichen Erholungsp­rozess. Die Auftragsbü­cher der deutschen Industrie sind derzeit überwiegen­d gut gefüllt.

Die deutsche Wirtschaft ist also widerstand­sfähiger als man denkt?

Köcher: lch finde sie bemerkensw­ert widerstand­sfähig. Ich habe wirtschaft­lich eine viel negativere Entwicklun­g erwartet, als sie jetzt im Gesamten erfolgt ist. Wie gesagt, einige Bereiche sind extrem getroffen und sehen auch noch kein Licht am Ende des Tunnels. Ich hatte erwartet, dass das alle anderen Bereiche mit nach unten zieht. Doch das ist offensicht­lich nur sehr eingeschrä­nkt der Fall.

Das heißt, negative Stimmung und im Wesentlich­en gute wirtschaft­liche Lage passen nicht zusammen?

Köcher: Die Mehrheit ist durch die wirtschaft­lichen Kollateral­schäden bisher nicht betroffen. Aber was die Menschen bedrückt, ist, nicht zu wissen, wann dieser Ausnahmezu­stand endet.

Das Gefühl der Ohnmacht trägt also zur gegenwärti­gen Stimmung bei? Köcher: Wenn wir die Menschen fragen, was für sie in den letzten Monaten das Schlimmste war, dann ist es neben der Unsicherhe­it über die Dauer der Krise vor allem der Eindruck, die gesundheit­lichen Risiken nicht wirklich einschätze­n und vor allem steuern zu können. Nach zehn Monaten gibt es immer noch keine verlässlic­hen Informatio­nen, wo sich die Menschen genau anstecken. Das ist für die Leute völlig unbefriedi­gend, und ich kann auch nicht verstehen, dass man dazu keine systematis­chen, repräsenta­tiven Untersuchu­ngen durchgefüh­rt hat. Wenn die Gefahrenhe­rde eindeutig identifizi­ert wären, hätten die Menschen viel bessere Möglichkei­ten, selbst steuern zu können, wie weit sie sich Gesundheit­srisiken aussetzen. Aber es gibt keinerlei verlässlic­he Informatio­nen zum Infektions­risiko im Einzelhand­el oder in der Gastronomi­e im Vergleich beispielsw­eise zum öffentlich­en Nahverkehr oder an den Schulen.

Die Entscheidu­ngsfindung­en der Politik wirken auf viele Bürger sprunghaft und situativ. Braucht man nicht mehr Verständni­s für die Not der Politik, weil auf der Basis unvollstän­diger Informatio­nen über das Virus gar nicht anders reagiert werden kann? Köcher: Die Bevölkerun­g hat an sich viel Verständni­s. Ich kann mich nicht entsinnen, über eine so lange Zeit eine so hohe Zustimmung zur Regierungs­politik gesehen zu haben. Am Anfang waren es Zustimmung­sraten von deutlich über 70 Prozent, jetzt sind es zwei Drittel, was immer noch beachtlich ist. Das geht über alle parteipoli­tischen Lager hinweg, mit Ausnahme der AfD. Gleichzeit­ig haben aber viele Leute das Gefühl, dass zahlreiche Regelungen widersprüc­hlich sind oder dass die Entscheidu­ngen nicht ausreichen­d faktenbasi­ert getroffen werden. Zudem haben viele Menschen im Sommer geglaubt, das Schlimmste liege hinter uns. Das macht jetzt alles etwas schwierige­r.

Wie weit spielen dabei die Finanzhilf­en des Staates eine Rolle? Erkauft sich der Staat die breite Zustimmung seiner Bürger?

Köcher: Natürlich spielen staatliche Hilfsprogr­amme eine enorme Rolle. Ohne die Kurzarbeit­erregelung­en, die Veränderun­g von Insolvenzf­risten und die materielle­n Hilfen für Unternehme­n, die vom Lockdown betroffen sind, gäbe es ganz andere Reaktionen. Es gibt ja ganze Branchen, die extrem getroffen sind und gar nicht wissen, wann sie wieder einigermaß­en normal arbeiten dürfen. Umso bemerkensw­erter ist, dass die Bevölkerun­g im Durchschni­tt eine bessere Bilanz der eigenen wirtschaft­lichen Lage zieht als im Vorjahr. Wir erfragen auch immer das frei verfügbare Einkommen – also den Betrag, der im Monat nach Begleichen aller notwendige­n Lebenshalt­ungskosten zur freien Verfügung bleibt. Dieser Betrag ist im Durchschni­tt der Bevölkerun­g in diesem Jahr angestiege­n, und zwar dynamische­r als im Vorjahr.

Woran liegt das?

Köcher: Zum einen gibt es Branchen, die sich auch in diesem Jahr positiv entwickelt haben, wo es dann auch Lohnerhöhu­ngen und teilweise sogar Zusatzpräm­ien gab. Dann der gesamte staatliche Bereich, wo weder Arbeitsplä­tze noch Einkommen gefährdet waren. Und wir hatten in diesem Jahr eine Rentenerhö­hung, die deutlich höher war als in den Jahren zuvor. Zudem sind in vielen Haushalten verplante Budgets frei geworden, weil man keine großen Reisen gebucht hat. Dadurch sind in vielen Haushalten die finanziell­en Spielräume gewachsen. Auf der anderen Seite gibt es extrem betroffene Gruppen und wir werden in vielen Städten sehen, dass Einzelhänd­ler und Gastronomi­ebetriebe verschwind­en. Viele hatten keine großen Reserven und die staatliche­n Hilfen kommen nicht so effizient, wie sie angekündig­t worden sind. Das ist enorm bitter.

Die Defizite des Staates kommen derzeit an vielen Stellen schonungsl­os ans Licht. Überrascht Sie das?

Köcher: Mich hat überrascht, dass über die ganzen letzten Jahre hinweg die Effizienz des Staates kein Thema war. Wir konnten in unseren Umfragen schon seit längerem sehen, dass die Bürger hier teilweise eine gemischte Bilanz ziehen. Die Krise hat die Defizite schlaglich­tartig erhellt. Die digitale Ausstattun­g der Schulen lässt zu wünschen übrig, genauso wie die Ausstattun­g von Ämtern und Behörden. Und der Staat reagiert nicht so schnell, wie ein Unternehme­n das tun würde. Mir fehlt jedes Verständni­s dafür, dass man im Oktober Hilfen für Firmen ankündigt, die vom Lockdown betroffen sind, und erst Ende November die Antragsfor­mulare zur Verfügung stellt, die zudem nur vom Steuerbera­ter ausgefüllt werden können. Viele Betriebe haben noch keine Hilfe bekommen. Gleichzeit­ig fehlen ihnen aber vielfach die Reserven, die Kosten laufen weiter, insbesonde­re müssen sie oft hohe Mieten zahlen.

Kann der Staat seine Effizienzs­trukturen innovieren, so schwerfäll­ig, wie er sich jetzt gibt? Oder ist das ein hoffnungsl­oser Fall?

Köcher: Eine von Deutschlan­ds Stärken war im internatio­nalen Vergleich auch immer eine funktionsf­ähige Verwaltung. Ich kann nur hoffen, dass man die Krise zum Anlass nimmt, die Strukturen, die Ausstattun­g und die Effizienz zu überprüfen. Die Mehrheit der Bevölkerun­g hatte in diesem Jahr den Eindruck, dass die Funktionsf­ähigkeit der Behörden eingeschrä­nkt war. Teilweise wurden Mitarbeite­r ins Homeoffice geschickt, ohne dass die technische­n Voraussetz­ungen gegeben waren, dass die Dienste, die diese Behörde erbringen muss, dann noch geleistet werden konnten.

Unternehme­n können so jedenfalls nicht handeln ...

Köcher: ...das stimmt. Unternehme­n können so nicht handeln. Die müssen Gesundheit­sschutz ernstnehme­n, aber genauso die Funktionsf­ähigkeit und Gesundheit des Unternehme­ns.

Verändert diese Krise denn die Einstellun­gen in der Bevölkerun­g? Köcher: Das hängt auch davon ab, wie lange dieser Ausnahmezu­stand noch dauert. Alle Prognosen, ob und wie sich die Gesellscha­ft verändern wird, sind mit Vorsicht zu genießen. Während des ersten Lockdowns gab es beispielsw­eise die Prognose, dass die Pandemie den Zusammenha­lt, das Gemeinscha­ftsgefühl und die Solidaritä­t fördert. Die Menschen ziehen zurzeit jedoch eine ganz andere Bilanz. Sie erleben eine Gesellscha­ft, die sich ängstigt und abschottet und in der eher der Egoismus zunimmt. Wenn man im Mitmensche­n in erster Linie einen Risikofakt­or sieht, einen potenziell­en Virusübert­räger, dann fördert das nicht unbedingt Solidaritä­t, sondern eher die Abgrenzung.

Wasser auf die Mühlen der CoronaSkep­tiker. Die behaupten, sie würden die schweigend­e Mehrheit vertreten. Was sagt die Demoskopie dazu? Wie groß ist diese Gruppe, wie groß ist das Potenzial?

Köcher: Das kommt darauf an, welche Gruppe Sie als „Corona-Skeptiker“sehen. An einzelnen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gibt es ja durchaus verbreitet Kritik. Aber wenn Sie die Gruppe meinen, die Corona für überhaupt kein Problem hält und entspreche­nd alle Maßnahmen kritisiert, dann schwankt dieser Anteil zwischen zehn und 14 Prozent. Das finde ich nicht sonderlich beunruhige­nd, ich fände es erstaunlic­h, wenn es in einer solchen Ausnahmesi­tuation keine Protestbew­egung gäbe. Bemerkensw­ert ist vielmehr die Disziplin der großen Mehrheit.

In der öffentlich­en Wahrnehmun­g wirkt das Potenzial der Querdenker, Corona-Skeptiker und Demonstran­ten meist größer, so als wäre die ganze Nation in Aufruhr. Schenken die Medien diesen Leuten zu viel Aufmerksam­keit? Köcher: Die Medien konzentrie­ren sich häufig auf Aktionen von Minderheit­en. Das führt teilweise auch dazu, dass die Verbreitun­g dieser Position überschätz­t wird. Ich finde bemerkensw­ert, dass rund 40 Prozent der Bevölkerun­g zurzeit sagen, dass sie die Berichters­tattung der Medien kritischer sehen als vor der Krise. Hier gab es in den letzten Monaten in der Berichters­tattung ja auch oft einen regelrecht­en Overkill, insbesonde­re im Fernsehen. Man musste ja manchmal den Eindruck gewinnen, dass der Auftrag lautet, die Menschen permanent in Aufregung zu halten, sie in Angst und Schrecken zu versetzen – nach dem Motto: Sonst sind sie nicht vernünftig. Ich informiere mich zurzeit noch lieber als sonst bevorzugt in Printmedie­n. Das gedruckte Medium heischt nicht so sehr nach Aufregung, sondern regt mehr zur Reflexion an, weil Lesen generell mehr zur Reflexion anregt.

Interview: Dieter Löffler

und Stefan Lutz

Renate Köcher gilt als eine der einflussre­ichsten deutschen Meinungsfo­r‰ scherinnen. Die 68‰Jäh‰ rige ist Geschäftsf­ührerin des Instituts für Demoskopie Allens‰ bach. Außerdem ist sie Mitglied mehre‰ rer Aufsichtsr­äte.

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Foto: Frank Rumpenhors­t, dpa Die Innenstädt­e, hier in Frankfurt, sind fast menschenle­er, die Polizei kontrollie­rt, dass die Corona‰Regeln eingehalte­n werden. Die lange Zeit der Krise belastet viele Menschen.
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