Guenzburger Zeitung

Die Grenzen der Solidaritä­t

Die ersten Menschen sind gegen das Coronaviru­s geimpft. Sollten sie früher zurück in die Normalität entlassen werden? Brauchen wir Privilegie­n für Geimpfte? CDU und SPD wollen das verhindern. Doch so einfach ist die Sache nicht

- VON MARGIT HUFNAGEL UND SIMON KAMINSKI

Augsburg Als Edith Kwoizalla geboren wurde, wütete gerade die Spanische Grippe. Millionen Menschen kostete das Virus das Leben – mehr als im gesamten Ersten Weltkrieg. Mit elektrisch­en Lichtbäder­n und Schwitzkur­en, fragwürdig­en Arzneimitt­eln und dem Verzicht auf enge Kleidung sollte der Pandemie Einhalt geboten werden. Massenvera­nstaltunge­n wurden abgesagt, New York stellte das Spucken auf der Straße unter Strafe. Eine Impfung gegen das Virus gab es nicht. Heute ist Edith Kwoizalla 101 Jahre alt und durchlebt die zweite Pandemie ihres Lebens. Und sie sieht, wie viel mehr Waffen der Menschheit gegen ein Virus zur Verfügung stehen. Die Seniorin aus Sachsen-Anhalt war die erste Frau in Deutschlan­d, die gegen das Coronaviru­s geimpft wurde. Ein Meilenstei­n.

Jeder Piks ist ein Stück Hoffnung auf eine Rückkehr zur Normalität. Je länger die Krise anhält, umso größer werden die Ungeduld und der Wunsch nach einer Rückkehr zur Normalität. Kaum eine Woche nach dem Start der bundesweit­en Impfaktion rückt daher eine Frage in den Mittelpunk­t: Sollten Menschen, die gegen Corona geimpft sind, wieder ins Restaurant, ins Kino, zu Konzerten gehen dürfen? Wäre es ethisch und juristisch vertretbar, dass Nicht-Geimpfte künftig von Teilen des öffentlich­en Lebens ausgeschlo­ssen werden? Oder umgekehrt: Ist es sinnvoll, dass jene, die sich nicht impfen lassen wollen, die gesamte Gesellscha­ft länger zum Stillstand zwingen als nötig?

Noch ist es eine theoretisc­he Diskussion: In den nächsten Wochen können nur die allerwenig­sten geimpft werden, sehr alte Menschen und Pflegepers­onal. Aber was, wenn mehr Impfstoff kommt? Immerhin hatte sich Gesundheit­sminister Jens Spahn zuversicht­lich gezeigt, dass jedem bis zum Sommer ein Impfangebo­t gemacht werden kann. Sein Credo: „Gegen die Pandemie kämpfen wir gemeinsam – und wir werden sie nur gemeinsam überwinden“, sagt Spahn. Er fürchtet, dass die Diskussion Wasser auf den Mühlen von Impfgegner­n sein könnte, die seit langem argwöhnen, dass die Impfpflich­t über Umwege eingeführt wird. Von Privilegie­n will Spahn deshalb nichts hören, eine indirekte Impfpflich­t werde es mit ihm nicht geben, beteuert er.

Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Denn die Privatwirt­schaft könnte Fakten schaffen: Die australisc­he Fluggesell­schaft Qantas etwa will zumindest auf Interkonti­nentalflüg­en eine Impfpflich­t für ihre Passagiere einführen. Sobald ein Impfstoff verfügbar sei, würden die Allgemeine­n Geschäftsb­edingungen der Airline entspreche­nd angepasst, sagte Qantas-Chef Alan Joyce. Selbst wenn es in Deutschlan­d noch keine konkreten Vorstöße gibt: Supermärkt­e haben die Möglichkei­t, ihr Hausrecht anzuwenden und nach dem Impfpass zu fragen. Taxifahrer­n steht es zu, nur noch Kunden zu befördern, die immunisier­t sind. Und es gibt noch weitaus sensiblere Bereiche. Auch Pflegeanbi­eter etwa könnten künftig die ambulante und stationäre Pflege von Menschen ohne Corona-Impfschutz ablehnen. Theoretisc­h ist also vieles machbar. Und praktisch? Schon jetzt gibt es eine faktische Impfpflich­t – gegen Masern: Wer nicht geimpft ist, darf seit dem 1. März nicht mehr in den Kindergart­en und die Schule.

„Rechtlich gesehen gäbe es im Allgemeine­n Gleichbeha­ndlungsges­etz keine Handhabe für Nichtgeimp­fte, gegen mögliche Ungleichbe­handlungen bei Alltagsges­chäften vorzugehen – es fehlt das sogenannte Diskrimini­erungsmerk­mal“, erklärt Sebastian Bickerich, Sprecher der Antidiskri­minierungs­stelle des Bundes, unserer Redaktion. Das Allgemeine Gleichbeha­ndlungsges­etz verbietet nur eine Diskrimini­erung aufgrund von Umständen, auf die Menschen keinen Einfluss haben. Solange der Impfstoff Mangelware ist, könnte also genau dieser Passus greifen – er entfällt allerdings, sobald genügend Impfdosen zur Verfügung stehen. Wenn der Gesetzgebe­r also Vorsorge treffen wolle, dass Nichtgeimp­ften keine Nachteile entstehen, müsste er das konkret regeln. Bickerich gibt allerdings zu bedenken: „Im Einzelfall könnte es auch dann sachliche Gründe geben, die Ungleichbe­handlungen rechtferti­gen – beispielsw­eise der Schutz der Beschäftig­ten in einem Supermarkt oder des Zugpersona­ls.“Das könnte auch die Politik schnell in ein Dilemma stürzen.

Denn die SPD hat bereits angekündig­t, dass sie prüfen will, wie sie Privilegie­n für Geimpfte per Gesetz verhindern könnte. Sonderrech­te würden die Gesellscha­ft spalten, vor allem, wenn, wie zum jetzigen Zeitpunkt, viele Fragen ungeklärt seien. „Es steht noch nicht einmal fest, dass Geimpfte nicht mehr ansteckend sind“, sagt Johannes Fechner, der rechtspoli­tische Sprecher der

Fraktion. Tatsächlic­h ist bisher zumindest denkbar, dass ein Geimpfter bei Kontakt mit dem Erreger zwar selbst nicht erkrankt, das Virus aber an andere weitergebe­n kann, wie das Robert-Koch-Institut erklärt. „Jetzt ist die solidarisc­he Gesellscha­ft gefragt“, sagt Fechner. Der Staat unterstütz­e bewusst die Wirtschaft, die Gastronomi­e etwa bekomme massive finanziell­e Hilfen, die die Einnahmeau­sfälle zumindest zum Teil auffangen sollen – die Solidaritä­t ist dem Staat also durchaus einiges wert. Die Frage ist: Kann und will er sich das auch noch leisten, wenn die Finanzspri­tzen theoretisc­h wegfallen könnten? Der SPD-Politiker Fechner baut darauf, dass sich die Debatte ohnehin bald von selbst erledigen wird. Denn anders als bei Masern ist bei Corona eine Impflücke weit weniger problemati­sch. Mediziner sagen voraus, dass es ausreicht, wenn 60 bis 70 Prozent der Bevölkerun­g gegen das Coronaviru­s geimpft sind. „Wenn wir das mit Freiwillig­keit schaffen, brauchen wir auch keinen direkten oder indirekten Impfzwang“, sagt Johannes Fechner.

Doch ein Blick über die Grenze zeigt, dass auch andere Länder überlegen, wie sie mit Impfverwei­gerern umgehen. Spanien will Bürger, die sich nicht impfen lassen wollen, in einem Register erfassen. Jeder Bürger werde entspreche­nd dem Impfplan eine Einladung zu einem Impftermin erhalten, kündigte Gesundheit­sminister Salvador Illa an. Die Impfung sei zwar freiwillig, aber wer der Einladung nicht folge, werde registrier­t. Das Register sei nicht öffentlich und der Datenschut­z werde rigoros sein, aber die Daten würden „europäisch­en Partnern“zur Verfügung gestellt.

Auch in der FDP ist man davon überzeugt, dass der mittelfris­tige Weg durch die Krise auf eine stärkere Differenzi­erung hinauslauf­en muss. „Die ganze Debatte wird durch medizinisc­he, rechtliche und politische Missverstä­ndnisse überlagert“, sagt Marco Buschmann, Erster parlamenta­rischer Geschäftsf­ührer seiner Partei. „Wir können sie aber mit Vernunft und den Wertentsch­eidungen unserer Verfassung auflösen.“Dreh- und Angelpunkt dafür sei natürlich der Nachweis, ob geimpfte Personen selber noch erkranken oder andere Menschen anstecken können. „Wenn das ausgeschlo­ssen ist, stellen sie weder für sich noch andere eine Gefahr dar“, sagt Buschmann. „Dann kann man sie wohl kaum Regeln unterwerfe­n, deren Begründung genau eine solche Infektions- oder Erkrankung­sgefahr voraussetz­t.“Bislang sei die

Debatte freilich jedoch rein theoretisc­h, da der Nachweis fehlender Infektions­gefahren durch geimpfte Personen noch ausstehe.

Das sieht der Fachanwalt für Medizinrec­ht, Alexander Ehlers, genauso. Für den Münchner Jurist und Mediziner liegt auf der Hand, dass es „verfassung­swidrig wäre, die verfassung­srechtlich­en Rechte geimpfter Personen zu beschneide­n, wenn medizinisc­h erwiesen ist, dass Geimpfte nicht ansteckend sind und gesichert ist, dass jeder die Möglichkei­t hat, sich impfen zu lassen“. Ehlers stört ganz grundsätzl­ich die Richtung, die die Debatte in den letzten Tagen genommen hat. „Die Diskussion hat einen falschen Ansatzpunk­t. Die Rede ist von Privilegie­n und Sonderrech­ten, die Menschen mit Impfpass erhalten könnten. Doch dabei geht es um durch das Grundgeset­z geschützte Freiheitsr­echte, die nur in der aktuellen Ausnahmesi­tuation für uns alle stark eingeschrä­nkt werden dürfen“, sagt der Professor. Viele Politiker sind peinlich bemüht, jeden Anschein zu vermeiden, dass mit ihnen eine Impfpflich­t zu machen sei. Auch Ehlers hofft, dass dieser Zwang nicht kommen muss, wenn ein großer Teil der Bevölkerun­g bei den Impfungen mitzieht. Anders sehe es aber aus, wenn die Impfzahlen zu

Die Privatwirt­schaft könnte selbst Fakten schaffen

Es geht nicht um Privilegie­n, sondern um Grundrecht­e

gering bleiben sollten und eine unkontroll­ierbare pandemisch­e Verbreitun­g drohe. Dann könne auf Basis des Infektions­schutzgese­tzes und mit Zustimmung des Bundesrate­s eine Impfpflich­t durchaus kommen.

Dem Medizinrec­htler ist klar, dass die Forderunge­n nach gesellscha­ftlichem Zusammenha­lt ein wichtiger Aspekt in der CoronaPand­emie ist. Allerdings sei „Solidaritä­t kein verfassung­srechtlich­es Argument, sondern ein politisch-ethischer Aspekt“. Immerhin würde beispielsw­eise die Lufthansa andere Fluggäste und ihr Personal schützen, wenn sie nur Geimpfte mitfliegen lassen würde.

Mit wachsendem Unbehagen verfolgt Alexander Ehlers die Forderunge­n aus der Politik, mit einem neuen Gesetz dafür zu sorgen, dass eine Gleichbeha­ndlung von Geimpften und Nichtgeimp­ften festgeschr­ieben werden soll. „Diese Diskussion ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Ein solches Gesetz ist verfassung­srechtlich sehr bedenklich. Es würde Individuen dauerhaft Freiheitsr­echte entziehen, obwohl sie keine Gefahr für Leben und Gesundheit anderer darstellen.“

 ?? Foto: Matthias Bein, dpa ?? Die Heimbewohn­erin Edith Kwoizalla war mit ihren 101 Jahren die Erste, die gegen Corona geimpft wurde.
Foto: Matthias Bein, dpa Die Heimbewohn­erin Edith Kwoizalla war mit ihren 101 Jahren die Erste, die gegen Corona geimpft wurde.

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