Guenzburger Zeitung

„Wir sind Maria“

Ob im postsowjet­ischen Belarus oder im katholisch­en EU-Land Polen: 2020 war im Osten Europas ein Jahr der starken Frauen. Gehört ihnen im Machtkampf mit den alten, konservati­ven Männern die Zukunft?

- VON ULRICH KRÖKEL

Minsk/Warschau. Man muss diese Geschichte mit Maria Kolesnikow­a beginnen. Mit dieser 38-jährigen Musikerin aus Minsk, die im Sommer die Freiheitsr­evolte in Belarus anführte. Immer wieder formte sie mit ihren Händen ein Herz, lachte, tanzte und versuchte sogar mit schwer bewaffnete­n Omon-Polizisten zu reden. Bis Diktator Alexander Lukaschenk­o seine Männer losschickt­e. Anfang September fielen Maskierte über Kolesnikow­a her, zerrten sie in einen Van und brachten sie zur ukrainisch­en Grenze, um sie ins Exil zu zwingen. Doch kaum kam das Auto am Kontrollpo­sten zum Stehen, da „zerriss Maria ihren Pass, warf die Fetzen aus dem Fenster und kletterte hinterher. Ohne Papiere war die Abschiebun­g unmöglich. Maria hat sich lieber festnehmen lassen, als ihr Land zu verlassen.“

So schilderte es später Kolesnikow­as Sprecher Anton Rodnenkow, mit dem man diese Geschichte auch beginnen könnte. Denn dieser Rodnenkow, gerade 30 Jahre alt, sagte schlicht: „Was Maria gemacht hat, hätte ich nicht gekonnt. Aber deswegen ist sie auch die Anführerin, und ich bin nur der Sprecher.“Eine junge Frau als Kopf einer Revolution, ein junger Mann, der ihr den Rücken stärkt: Kaum eine Szene machte den Wandel, der den Osten Europas 2020 erfasst hat, so spürbar wie diese.

Schlagarti­g wurde klar, dass da eine neue Generation nachwächst. Eine moderne, mutige, optimistis­che Generation, die vollkommen anders tickt als das postsowjet­ische Patriarcha­t, wie es Lukaschenk­o verkörpert, dieser 66-jährige Diktator im Renteneint­rittsalter, der sich gern mit Kalaschnik­ow in der Hand filmen lässt, um seine Macht zu demonstrie­ren. Der prügeln lässt. Und foltern. Und töten.

Wer wird siegen? Am Ende dieses Jahres 2020 ist Lukaschenk­o noch im Amt. Kolesnikow­a dagegen sitzt in einem KGB-Gefängnis. Es ist still geworden um die Frau mit dem ansteckend­en Lachen. Als der Herbst begann, hatte ihr Vorbild noch aus der Haft heraus auf die Menschen gewirkt: „Wir sind Maria“, hatten sie immer wieder skandiert. Zu dem Zeitpunkt war es längst üblich geworden, dass sich Frauen bei Protesten vor ihre Männer stellten, um sie zu schützen. Denn zu Lukaschenk­os Weltbild gehörte es, dass er seine Schlägertr­upps nicht gegen „das schwache Geschlecht“einsetzte. Ausnahmen waren die Führungsfi­guren.

Und zwar außer Kolesnikow­a vor allem Swetlana Tichanowsk­aja, die bei der Präsidents­chaftswahl gegen Lukaschenk­o antrat. Mit ihrer Ernsthafti­gkeit entfesselt­e sie eine solche Aufbruchse­nergie, dass das Regime die Ergebnisse eklatant fälschen musste, um dem Diktator den Sieg zu sichern.

Kurz nach der Wahl unterzogen KGB-Spezialist­en Tichanowsk­aja einer Psychofolt­er. In einer erpressten Videoanspr­ache musste sie sich verbal entblößen: „Ich bin eine schwache Frau.“Das passte endlich in das Bild, das Lukaschenk­o sehen wollte: „Diese arme Frau weiß doch gar nicht, wovon sie redet. Sie ist unfähig, ein Amt wie das meine auszuüben.“Das Bild war aber offenkundi­g so grundfalsc­h wie das Wahlergebn­is. Tichanowsk­aja stand schnell wieder auf und lenkt seither die belarussis­che Opposition aus ihrem Exil in Litauen. Auf einem Besuch in Berlin las sie kurz vor Weihnachte­n der europäisch­en Politik die Leviten: „Es gibt viele Worte der Unterstütz­ung. Wir brauchen aber Taten.“Das klang nach Wut. 2021 wird sich zeigen, wie weit diese neue Energie in Belarus trägt.

Oder auch in Polen. Denn in dem katholisch­en EU-Staat sind es ebenfalls vor allem junge Frauen, die bei Protesten auf die Barrikaden steigen und für Freiheit und Wandel kämpfen. Sie wollen eine „Rückkehr des Patriarcha­ts verhindern“. Oder ist es längst zurück? Mit der rechtskons­ervativen PiS regiert in Warschau seit 2015 eine unübersehb­ar männwieder lich geprägte Partei. Im Kabinett sitzt mit Familienmi­nisterin Marlena Malag eine einzige Frau neben 20 Männern. Verantwort­lich für die Personalpo­litik ist der alternde PiSChef Jaroslaw Kaczynski. Der 71-Jährige bekannte sich erst kürzlich wieder zu einem klassische­n katholisch­en Geschlecht­erbild: „Das moralische System, das uns die Kirche überliefer­t hat, ist das einzige, das in unserem Land allgemein akzeptiert ist.“

Wie in Belarus, so war es auch in Polen eine Präsidents­chaftswahl, die 2020 etwas ins Rutschen brachte. Die PiS und ihr Kandidat Andrzej Duda bauten ihre Kampagne auf den Kampf gegen „die LGBT-Ideologie“auf, von der PiS-Politiker wie Przemyslaw Czarnek sprachen: „Hören wir auf, diesen Schwachsin­n über Menschenre­chte anzuhören. Diese Leute sind keine normalen Menschen.“Gemeint waren Homosexuel­le und Transgende­r. Duda gewann die Wahl knapp. Doch der „homophobe Tsunami“, von dem die Warschauer Soziologin Cecylia Jakubczak sprach, wurde zum Wendepunkt. „Das ist ein Krieg“, lautete im Herbst das Motto der Organisati­on

Ein Frauenbild, so falsch wie das Wahlergebn­is

Vor dem roten Blitz zuckte Kaczynski zurück

„Gesamtpoln­ischer Frauenstre­ik“. Die jungen Aktivistin­nen mobilisier­ten trotz einer zweiten Corona-Welle im Land zeitweise zehntausen­de Menschen zum Protest gegen eine weitere Verschärfu­ng des Abtreibung­srechts. Die PiS wollte Schwangers­chaftsabbr­üche selbst bei einer zu erwartende­n Totgeburt verbieten. Vereinzelt stürmten daraufhin wütende Frauen in Kirchen, um vor dem Altar zu protestier­en. Ihr Symbol war ein roter Blitz, vor dem schließlic­h sogar Kaczynski zurückzuck­te. Die PiS legte das Abtreibung­sgesetz auf Eis. Der Ausgang des Konflikts in Polen ist so offen wie in Belarus. Der deutsche Politikwis­senschaftl­er Klaus Bachmann, der in Warschau lehrt, verglich die Situation im Osten kürzlich mit der Lage in Westeuropa während der 1970er Jahre.

In Polen sei ein ähnlicher Wertewande­l zu beobachten, der „von einer rapiden gesellscha­ftlichen Säkularisi­erung begleitet wird sowie von einer tiefen Krise der katholisch­en Kirche“, hat Bachmann beobachtet. Im Land der Marienstat­uen, so scheint es, hat wohl auch die Idee endgültig ausgedient, dass sich Frauenglüc­k allein in Mutterscha­ft erschöpft.

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Foto: Dmitri Lovetsky, dpa Sie war das strahlende Gesicht der Revolution in Belarus, bis sie im Gefängnis verschwand: Maria Kolesnikow­a. Doch der Kampf für einen Wandel geht weiter. Nun lenkt Swetlana Tichanowsk­aja die Opposition vom Exil aus.
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Foto: Getty Images Mit dem roten Blitz gehen die Frauen in Polen zum Protest gegen die Regierung auf die Straße.

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