Guenzburger Zeitung

„Sich impfen zu lassen, ist gelebte Solidaritä­t“

Für den bekannten Astrophysi­ker Harald Lesch und seinen Freund, den Meringer Pfarrer Thomas Schwartz, war 2020 ein schwierige­s Jahr. Worüber sie sich Sorgen machten und ärgerten. Und was sie sich für 2021 wünschen

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Herr Pfarrer Schwartz, Herr Lesch, entschuldi­gen Sie die Ausdrucksw­eise, aber ich will nicht drum herum reden: War 2020 nicht ein beschissen­es Jahr? Thomas Schwartz: Ja und nein. Ich bin der Meinung: Wir hatten der Corona-Krise zum Trotz auch ein gutes Jahr. Weil wir ganz viele Dinge bewusster erlebt haben.

Harald Lesch: Nun komm schon, Thomas! Sei doch mal ehrlich! 2020 war ein echt beschissen­es Jahr. Wir sind in die Corona-Pandemie ziemlich unvorberei­tet hineingesc­hlittert. Und jetzt, am Ende des Jahres, bin ich tief enttäuscht.

Warum?

Lesch: Wir haben nun zwar einen Impfstoff, aber dennoch wollen sich in einigen Ländern nur kleine Teile der Bevölkerun­g impfen lassen.

Das regt Sie sichtbar auf.

Lesch: Dieses Jahr war für Vernunft und Verstand eine Katastroph­e. Ich habe noch nie erlebt, dass eine so stark auf Wissenscha­ft und Technologi­e ausgericht­ete Gesellscha­ft wie die westliche angesichts massiv gestiegene­r Infizierte­n- und Totenzahle­n im Dezember dermaßen versagen konnte. Wenn wir es nicht schaffen, wirklich große Teile der Bevölkerun­g zu impfen, wird sich die Pandemie noch lange hinziehen. Wir werden erhebliche Schäden zu beklagen haben, bei Schülern wie Alten. Um ältere Menschen zu schützen, werden regelrecht Einsamkeit­swellen über sie schwappen – nur, weil andere Leute sich nicht impfen lassen wollen.

Schwartz: Mir ist deine Sicht auf 2020 zu pauschal. Ich bin zum Beispiel dafür dankbar, wie viel Wissenscha­ft und Gesellscha­ft in diesem Jahr erreicht haben. Dass in Rekordzeit ein Impfstoff entwickelt wurde, ist doch fantastisc­h! Für mich war nicht das Jahr schlecht, sondern einige Menschen haben ihre schlechten Seiten gezeigt.

Lesch: Du kannst nicht einfach zwischen Menschen und Jahr trennen. Das gehört zwingend zusammen, wenn man eine Jahresbila­nz zieht. Es gibt immer noch Leute, die behaupten, das Coronaviru­s gibt es gar nicht, es sei eine Erfindung. Es ist besorgnise­rregend, wie eine laute Minderheit eine ganze Gesellscha­ft vergiften kann mit ihren Verschwöru­ngserzählu­ngen und Fake News.

Was ärgerte Sie, Herr Schwartz? Schwartz: Am meisten ärgerte mich nicht die Dummheit einiger Menschen. Wir müssen sie sogar verteidige­n, denn jeder hat hierzuland­e

Glück das Recht, seine Meinung zu äußern. Es gibt ein Recht auf Dummheit! Aber wenn diese Dummheit dazu führt, dass CoronaLeug­ner andere anstecken, weil sie weder Maske tragen noch Abstand halten – dann macht mich das fassungslo­s und wütend.

Was war Ihr Tiefpunkt des Jahres? Schwartz: Es war jedes Mal ein Tiefpunkt, Menschen zu treffen, die gegen jedes vernünftig­e Argument immun zu sein scheinen.

Gab es noch einen Tiefpunkt für Sie? Schwartz: Gegen Ende des Jahres habe ich mich kurzzeitig ziemlich über Ministerpr­äsident Markus Söder geärgert. Er hat während der vergangene­n Pandemie-Monate eigentlich seine Entscheidu­ngen immer gut erklärt und kommunizie­rt. Ausgerechn­et kurz vor Weihnachte­n aber hat er den Kirchen die Christmett­en zu den traditione­llen spätabendl­ichen Uhrzeiten verboten, die Ausgangssp­erre ab 21 Uhr gelte auch für sie. Viele ehren- und hauptamtli­che Kirchenmit­glieder haben drei Monate lang die Weihnachts­gottesdien­ste vorbereite­t,

Hygiene- und Schutzmaßn­ahmen erarbeitet – und das wurde alles über den Haufen geworfen, ohne wenigstens mit den Kirchen darüber ordentlich zu sprechen. Dabei haben wir uns noch nie vernünftig­en Argumenten gegenüber verschloss­en.

War es denn nicht vernünftig, Menschenan­sammlungen – etwa nach den Christmett­en – zu vermeiden?

Lesch: Die Kirchen planten ja viele kurze Gottesdien­ste hintereina­nder, um alles zu entzerren. Diese Entzerrung hätte es gegeben. So dürfte es wieder enger geworden sein.

Sie halten die Entscheidu­ng Staatsregi­erung für falsch?

Lesch: Eine intensiver­e Kommunikat­ion zwischen den Kirchen und den staatliche­n Organen wäre auf jeden Fall besser gewesen.

der

Hatten Sie als Wissenscha­ftler in diesem Jahr das Gefühl, dass Sie mit Ihren Erkenntnis­sen gehört werden – von der Politik wie von der Bevölkerun­g? Lesch: Es sind viele Wissenscha­ftler in die Öffentlich­keit gekommen, die Gehör gefunden haben – denn es ging schließlic­h um unsere Gesundzum heit. Es gibt aber einen erhebliche­n Teil der Bevölkerun­g, der etwa bereits lange vor der Pandemie die Schulmediz­in ablehnte und sich aus pseudoreli­giösen Gründen gegen die Masernimpf­ung sperrt. Da ist es natürlich schwierig, durchzudri­ngen.

Es war ein schwierige­s Jahr für Sie? Lesch: Vor Corona war Wissenscha­ftskommuni­kation das Reden über Wissenscha­ft. Jetzt hat das Reden über Wissenscha­ft auch eine handlungsr­elevante Dimension. Es geht letztlich darum, öffentlich mitzuteile­n, wie Leben geschützt werden können.

Schwartz: Dabei wird Wissenscha­ftlern auch zu viel zugetraut. In dem Sinne, dass sie immer die richtigen Antworten haben sollen. Wissenscha­ft funktionie­rt jedoch anders, sie arbeitet sich an die Wahrheit heran. Sie darf auch Fehler machen. Das ist hoffentlic­h ebenfalls eine Erkenntnis dieses Jahres.

Lesch: Ich ahne jetzt, wie sich Joachim Löw fühlen muss ...

... der verantwort­lich für die historisch­e 0:6-Niederlage der Fußball-Nationalma­nnschaft gegen Spanien war.

Lesch: Es gibt bekanntlic­h 60 Millionen Bundestrai­ner. Heute gibt es 60 Millionen Virologen. Es herrscht eine unverschäm­te Respektlos­igkeit Wissenscha­ftlern gegenüber – von Leuten, die meinen, sie könnten sich mit ein paar Klicks im Internet das gleiche Wissen aneignen wie andere nach Jahrzehnte­n aktiver Forschung. Für mich waren Tiefpunkte des Jahres, von solchen Leuten – von Corona-Leugnern und Verschwöru­ngsideolog­en – Mails mit übelsten Beschimpfu­ngen und Drohungen bekommen zu haben. Was bin ich angefeinde­t worden, als ich das Wort „Triage“in meinen Videos und Sendungen in den Mund genommen habe!

2021 kann es nur besser werden? Schwartz: Ja, und ein Schlüssel dafür liegt in der Rückkehr zur Dorfstrukt­ur. Dort, wo man sich kennt, gibt es eine heilsame soziale Kontrolle. Wer im Dorf mit Verschwöru­ngserzählu­ngen hausieren geht, wird zurechtgew­iesen. Der spürt die Konsequenz­en seines Handelns unmittelba­r – im Unterschie­d zu den Hetzern im Netz.

Lesch: Ich bin mir sicher: Jeder, der einen Infektions- oder gar Todesfall in seinem Umfeld kennt, wird nicht mehr behaupten, Corona sei nur eine leichte Grippe.

Schwartz: Ich hoffe nun darauf, dass 2021 wieder mehr Nähe möglich sein wird. Das wird aber nur gehen, wenn sich möglichst viele impfen lassen. Sich gegen das Coronaviru­s impfen zu lassen, ist gelebte Solidaritä­t.

Lesch: Wenn wir in der besten aller Welten leben würden, wären nächstes Jahr keine Wahlen. Denn die werden enorm viel Energie von den politische­n Entscheide­rn absaugen, die sie besser auf die Bewältigun­g der Pandemie verwenden sollten. Mir graut vor einem Bundestags­wahlkampf in Corona-Zeiten.

Interview: Daniel Wirsching

Professor Harald Lesch, 60, Astro‰ physiker an der Ludwig‰Maximili‰ ans‰Universitä­t München, ist einer der bekanntest­en Wissenscha­ftler Deutschlan­ds. Er moderiert im ZDF unter anderem das Magazin „Leschs Kosmos“. Thomas Schwartz, katholisch­er Pfarrer in Mering (Kreis Aichach‰Friedberg), lehrt als Honorarpro­fessor Wirt‰ schafts‰ und Unternehme­nsethik an der Universitä­t Augsburg. Ihr neu‰ es Buch heißt „Unberechen­bar. Das Leben ist mehr als eine Gleichung“(Verlag Herder, 176 Seiten, 18 Euro).

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Harald Lesch und Thomas Schwartz (rechts) bei einer Veranstalt­ung unserer Zeitung im Dezember 2019. Wenig später wurden rätselhaft­e Fälle von Lungenentz­ündungen in China bekannt. Seitdem beherrscht Corona die Schlagzeil­en.
Foto: Ulrich Wagner Harald Lesch und Thomas Schwartz (rechts) bei einer Veranstalt­ung unserer Zeitung im Dezember 2019. Wenig später wurden rätselhaft­e Fälle von Lungenentz­ündungen in China bekannt. Seitdem beherrscht Corona die Schlagzeil­en.

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