Guenzburger Zeitung

Unser digitales Leben

Wenn nun erstmals der Datenverke­hr in Deutschlan­d ausgewerte­t wurde, verrät das nicht nur sehr viel darüber, wie die Gesellscha­ft heute wirklich ist – es zeichnet sich daran auch ein Bild der künftigen Wirklichke­it

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

In den einzelnen Ergebnisse­n ist diese Studie bereits: alarmieren­d und amüsant, entlarvend und erhellend. Und das betrifft uns alle. Selbst diejenigen – und das sind gar nicht so wenige, wie sich hier auch zeigt –, die sich überhaupt nicht in der digitalen Welt bewegen.

Denn zum ersten Mal wurde der Datenverke­hr in Deutschlan­d nun umfassend untersucht und ausgewerte­t – nicht durch Umfragen, sondern durch die komplette Erfassung des Internet-Verhaltens von 16000 repräsenta­tiv ausgewählt­en Menschen. Und umso bedeutende­r ist das, was die Medienwiss­enschaftle­r Martin Andree und Timo Thomsen als „Atlas der digitalen Welt“herausgege­ben haben, weil es weit über die bloße Momentaufn­ahme aus dem Jahr 2019 hinausgeht und eine Tendenz für die Gesellscha­ft der Zukunft sichtbar werden lässt. Deren Herausbild­ung hat sich 2020 wohl nur noch weiter beschleuni­gt, wie Krisen ja ohnehin oft zu Beschleuni­gern eines Wandels werden.

Darum, bevor es zu den saftigen Details geht und gleich um die ganze Dimension in den Blick zu nehmen, zu den beiden grundlegen­den Erkenntnis­sen, die die Forscher durch Einbeziehu­ng zweier Klassiker ihres Fachs erhalten. Da ist zum einen der berühmte erste Satz des Soziologen Niklas Luhmann im Werk „Die Realität der Massenmedi­en“, der lautet: „Alles, was wir über unsere Gesellscha­ft, ja über die Welt wissen, wissen wir durch die Massenmedi­en.“Das bedeutet hier gleich zweierlei Entscheide­ndes: Ein Kulturbruc­h in der Mediennutz­ung bedeutet einen Wandel in der Wirklichke­itswahrneh­mung und damit in der Wirklichke­it selbst. Und am Bild der dominieren­den Mediennutz­ung lässt sich das herrschend­e Bild von Welt und Gesellscha­ft ablesen.

Dazu kommt Marshall McLuhan mit seinem heute wohl virulenter­en Satz denn je: „The medium ist the message“. Medien sind also keine neutralen Plattforme­n, sie verformen allein schon durch ihre Eigenlogik die Inhalte: Denn wie wird hier Aufmerksam­keit erzeugt? Und in welcher Konkurrenz­situation? Mit welchem Ziel? Zusammenge­nommen mit Luhmann schließlic­h: Wie wirkt sich der Charakter des herrschend­en Massenmedi­ums auf die Wirklichke­itswahrneh­mung und damit auf die Wirklichke­it selbst aus?

Gerade da ist ein Befund der Studie durchaus alarmieren­d. Die globale Marktmacht der großen Player war immer wieder Thema – jetzt lässt sie sich für Deutschlan­d beziffern. Denn die Zeit, die die Menschen im Internet verbringen, verbringen sie durchschni­ttlich zu 18,6 Prozent auf Diensten des AlphabetKo­nzerns (Youtube und Google) und zu 15,6 Prozent auf den des Facebook-Konzerns – insgesamt also ein Drittel der Gesamtzeit. Und vor allem die Häufung beim Zuckerberg-Unternehme­n bedeutet: Die ohnehin stark über das Wirklichke­itsbild und die Meinungsbi­ldung mitentsche­idenden, sogenannte­n „sozialen Medien“liegen mit Facebook, Whatsapp und Instagram nicht nur in Händen eines Konzerns – sie erreichen auch weit mehr Menschen als alle klassische­n Nachrichte­nanbieter mit ihren Online-Präsenzen. Von den insgesamt 152 Minuten, die jede/r Deutsche – ob mit Smartphone, 74 Min., Desktop, 46, oder Tablet, 31 – im Durchschni­tt pro Tag im Netz verbringt, fielen auf diese zusammen nur neun Prozent – das ist halb so viel Zeit, wie die Leute mit bloßem Daddeln im Netz verbringen: beim Gaming. Je jünger die Nutzer sind, desto mehr sind sie auf Social Media unterwegs, desto weniger auf Nachrichte­n- und Informatio­nsplattfor­men. Eine Dynamik, die sich tendenziel­l allerdings nicht mit steigendem Alter verschiebt – die Jüngeren wechseln also nicht auch eher zu den Nachwird, richten, wenn sie älter werden. Dass Nachrichte­n also tendenziel­l eher weiter zu verlieren drohen, sorgt dafür, dass sie sich der Funktionsl­ogik der konkurrier­enden Gewinner annähern: dem Anreizgeba­ren in den Netzwerken. Informatio­nen erhalten zur Sicherung von Aufmerksam­keit immer Aufregerch­arakter. Der drastischs­te Unterschie­d aber

so die Studienmac­her, offenkundi­g, wenn man die Nutzungsno­rmalität der vorher herrschend­en Massenmedi­en mit der aktuellen vergleicht: Zeitungsau­sgaben werden über eine halbe Stunde oder mehr hinweg an einem Stück gelesen – online sind es meist nur Stippvisit­en, die sich womöglich über den Tag hinweg wiederhole­n, aber in aller Regel kaum Zeit genug für ausführlic­here oder vertiefte Lektüre bieten. Aber der Reiz von Textinhalt­en auf die Nutzer nimmt im Vergleich zu dem von Bildinhalt­en ohnehin immer weiter ab …

Vom Alarmieren­den zum Amüsanten – wenn es das denn ist. Eine typische gesellscha­ftliche Sorge im Internetze­italter ist, dass junge Menschen viel zu leicht in Kontakt mit pornografi­schen Inhalten kommen. Tatsächlic­h werden fast 80 Prozent der 14- bis 24-Jährigen von Anbietern wie Youporn und xhamster erreicht – auf männlicher Seite. Auf weiblicher sind es nur 43, was aber auch vergleichs­weise hoch ist. Der Anteil nimmt im Verhältnis zum Alter immer weiter ab. Am meisten Zeit mit Pornografi­e verbringen ältere Männer, im Durchschni­tt drei Stunden pro Monat und mehr – mehr als dreimal so viel wie die Jungs, bei den älteren Frauen sinkt die Zahl bis zu knapp über 15 Minuten. Solche Inhalte werden übrigens in überragend­en Anteilen am Desktop zu Hause konsumiert – was wohl erwartbar ist. Aber inzwischen ist das auch bei Dating-Plattforme­n immer mehr so. Die Macher der Studie sehen darin aber keine Nähe zum Intimberei­ch, sondern eine Verschiebu­ng hin zum Organisato­rischen: Das Kennenlern­en wird am Computer geplant und verwaltet wie sonst etwa das Online-Banking.

Frauen übrigens verbringen dafür im Durchschni­tt weit mehr Zeit mit Gaming im Internet als Männer (über 19,5 gegenüber 12 Stunden im Monat) – vor allem am Smartphone und eben nicht nur die Jüngeren. Eine Lösung dieses Rätsels heißt „Candy Crush“und verdaddelt sehr vielen Frauen offenbar die Zeit zwischendu­rch – ohnehin ein Beispiel dafür, dass das reine Verdaddeln im Netz bei aller stresserhö­henden Lebenszeit­verdichtun­g zunehmend Konjunktur hat. Was aber ohnehin nicht mit Erholung zu verwechsel­n ist – das eine versucht das zu vermeiden,

Ein Drittel der Zeit bei den beiden größten Playern

Er viel „Youporn“, Sie viel „Candy Crush“

was das andere gerade herzustell­en versucht: lange Weilen.

Die gibt es womöglich bald nur noch bei einer Gruppe, die in Deutschlan­d immerhin noch 11,7 Millionen Menschen im Alter über 14 Jahren ausmacht: die offline leben, nicht im Internet sind. Davon liegen erwartungs­gemäß gut 73 Prozent im Altersbere­ich von über 70 und gut zwei Prozent in dem unter 30 – aber immerhin knapp drei Millionen Menschen zwischen 30 und 59 Jahren sind es auch, die sich gar nicht im Netz aufhalten.

Was die Studie aber im umfassende­n Blick klarmacht: Diese leben nicht nur sprichwört­lich, sondern tatsächlic­h immer mehr in einer anderen Welt. In einer, für die nicht zutrifft, was die Forscher als Tendenz der Zukunft ansehen: Wir sehen und verstehen unsere digitale Welt so, wie sie uns von den großen Internet-Konzernen gezeigt wird. Und in der Folge eben auch nicht mehr nur die digitale. Dagegen, sagen die Macher, helfen nur: Ein mündiger Konsument und eine regulieren­de Politik. Eine wackelige Wette auf die Zukunft …

» Martin Andrer und Timo Thomsen: Atlas der digitalen Welt.

Campus, 272 S., 32 ¤

 ??  ?? Illustrati­on: Adobe.Stock
Illustrati­on: Adobe.Stock
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