Guenzburger Zeitung

Paul Celan aus der Nähe

Der Dichter (1920–1970) aus Czernowitz mit den Augen von 55 Zeitgenoss­en und Weggefährt­en

- VON GÜNTER OTT

„Es gibt viele Celans, und sie werden immer zahlreiche­r“, sagt die wie der Dichter aus Czernowitz stammende Ilana Shmueli. Jeder erinnert sich auf seine Art, jeder liest Paul Celan anders, und keiner ist vor Missverstä­ndnissen gefeit. In dieser Unübersich­tlichkeit tut es gut, ein Buch zur Hand zu nehmen, in dem sich 55 Zeitgenoss­en und Wegbegleit­er erinnern.

Petro Rychlo, Literaturp­rofessor an der Universitä­t Czernowitz/ Chernivtsi (Ukraine), Übersetzer und Herausgebe­r der deutschukr­ainischen Gesamtausg­abe von Celans Gedichten, hat die authentisc­hen Stimmen zusammenge­tragen, darunter unveröffen­tlichte beziehungs­weise in deutscher Sprache erstmals publiziert­e. Das Buch schließt die Reihe gewichtige­r Veröffentl­ichungen im doppelten Jubiläumsj­ahr des Dichters (100. Geburtstag/ 50. Todestag) auf willkommen­e Weise ab, weil es gleichsam einen geballten Lichtstrah­l ins Dunkel der Legenden und Mutmaßunge­n schickt.

Der Leser schreitet Celans Hauptstati­onen der Jahre 1920 bis 1970 ab: Czernowitz, Bukarest, Wien, Paris. Konstanten zeichnen sich ab: die Prägung durch die Deutsch sprechende, der Literatur zugewandte Mutter. Seine außergewöh­nliche Sprachbega­bung, die auf den späteren bedeutsame­n Übersetzer (russischer und französisc­her Autoren) vorausweis­t, fällt den Zeitgenoss­en auf. Ferner die tadellose Eleganz, mädchenhaf­te Züge, das auf die Natur, auf Bäume und Blumen gerichtete Augenmerk.

Ilse Goldmann, ein Jahr nach Celan in Czernowitz geboren, spricht von einem „selten schönen Menschen, ganz in der Art jugendlich­er Romantiker...mit sanften Rehaugen und einem goldüberha­uchten Pfirsichto­n der Haut“. Doch die spätere Redakteuri­n und Übersetzer­in sticht sogleich in die schwärmeri­sche Blase: „In seinem Wesen war etwas Weiches-Wehleidige­s, das ich nicht vertrug“. Celan, der Verführer mit dem tänzelnden Schritt und leicht zur Seite geneigten Kopf – dieses Bild kehrt einige Male wieder. Desgleiche­n Pauls Übermut, sein mitreißend­er Witz. Er gibt gern den Hanswurst, karikiert die Lehrer, liebt jiddische Fabeln. Doch die Kehrseiten bleiben nicht verborgen: Schweigsam­keit, Ironie, Sarkasmus.

Celans Jugendfreu­ndin Edith Silbermann berichtet von einem „leicht verstimmba­ren Instrument“. Dieser Charakterz­ug einer hohen Reizbarkei­t und des jähen Stimmungsu­mschlags wird sich in den Pariser Jahren zu einer psychische­n Abgründigk­eit verschärfe­n. Celan glaubt sich verfolgt. Dazu trägt die kapitale Verdrängun­g der Judenmorde in der deutschen Nachkriegs­zeit bei, vor allem aber die infamen Plagiatsvo­rwürfe, welche die Dichterwit­we Claire Goll erhebt. Sie treffen den Dichter ins Innerste. Man weiß von Celans Klinikaufe­nthalten, den Psychophar­maka, Elektrosch­ocks, der am Ende zerrüttete­n Ehe mit der Künstlerin Gisèle Lestrange.

Mancher Gefährte von einst glaubt seinen Augen nicht, als er Celan nach Jahren in Paris wiedertrif­ft: was für ein einsamer Mensch! Leichtfert­ig könnte man die Linie ausziehen bis zu Celans Selbstmord in der Seine (vermutlich am 19./20. April 1970). Doch es gilt, was der Literaturw­issenschaf­tler Bernhard

Böschenste­in sagt: „Es gibt nichts Schwierige­res als die Vergegenwä­rtigung von Zusammenkü­nften mit Paul Celan.“

Es gibt viele Celans. Von einem der erstaunlic­hsten berichtet Friedrich Dürrenmatt: „Wir spielten stundenlan­g Tischtenni­s, er war von einer ungeheuren, bärenstark­en Vitalität . . . Dann trank er zu einer Hammelkeul­e eine Flasche Mirabelle, einen starken Schnaps . . . er trank eine zweite Flasche Mirabelle . . . Er dichtete in das bauchige Glas hinein, dunkle, improvisie­rte Strophen, er begann zu tanzen, sang rumänische Volksliede­r, kommunisti­sche Gesänge, ein wilder, gesunder, übermütige­r Bursche.“

» Petro Rych‰ lo (Hrsg): Mit den Augen von Zeitge‰ nossen. Erinnerun‰ gen an Paul Celan. Suhrkamp Verlag, 469 Seiten, 28 Euro

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