Guenzburger Zeitung

„Mein Leben ist nie langweilig“

FCA-Trainer Heiko Herrlich spricht über ein turbulente­s Jahr 2020, die spielerisc­he Entwicklun­g seiner Mannschaft und wie sehr ihn seine schwere Krankheit vor 20 Jahren verändert hat

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Herr Herrlich, konnten Sie die Zeit über Weihnachte­n ein wenig genießen? Heiko Herrlich: Es war ja nicht viel Zeit, mehr ein verlängert­es Wochenende. Ich habe die Tage im Kreis der Familie verbracht. Als Trainer ist man viel unterwegs und freut sich, wenn man mit der Familie ein bisschen Ruhe hat.

Wie wichtig ist es Ihnen, mit der Familie feiern zu können?

Herrlich: Nicht nur für mich, für viele Menschen ist es das Wichtigste im Leben. Die Familie ersetzt nichts. Man genießt die Zeit, die man zusammen hat.

Zuletzt hatten Sie erzählt, dass Sie nach Ihrer Zahnpastaa­ffäre im Frühjahr viel Zahnpasta und Hautcreme bekommen haben. Gab es das zu Weihnachte­n auch wieder?

Herrlich: Nein, daran hat niemand gedacht. Vielleicht ist das jetzt auch schon zu abgedrosch­en.

Wie denken Sie im Rückblick über Ihren Zahnpastak­auf in einem Supermarkt, für den Sie das Quarantäne­Hotel verlassen haben?

Herrlich: Ich habe einen Fehler gemacht und die Konsequenz­en gezogen. Damals war kein zweiter negativer Test vor dem Wolfsburgs­piel mehr möglich, also habe ich reagiert und mich rausgenomm­en. Ich habe den Fehler eingestand­en und die Konsequenz­en getragen. Heute kann ich darüber schmunzeln. Ich hätte wahrschein­lich ebenfalls über mich gelacht. Eines weiß ich aber auch: Es wird sicher nicht mein letzter Fehler in meinem Leben gewesen sein.

Sie sind jetzt gut neun Monate in Augsburg und haben vor allem wegen Corona eine turbulente Zeit erlebt. Herrlich: Es war nicht nur für uns eine neue Situation, sondern für alle Menschen. Eine Situation, die man sich so nicht vorstellen konnte. Wir müssen dankbar sein, dass wir unseren Beruf ausüben können. Das ist sehr positiv und gibt einem Kraft. Ich hoffe, dass wir die Pandemie in den Griff bekommen, die Impfungen wirken und wir irgendwann wieder Fußballspi­ele in einem vollen Stadion erleben können, ohne dass man sich Sorgen machen muss. Ich weiß, das ist noch in weiter Ferne, aber die Hoffnung habe ich. Bisher habe ich hier in Augsburg nur das Spiel gegen Borussia Dortmund mit Zuschauern erlebt. Da haben sich die 6000 Fans wie ein volles Stadion angefühlt. An den Zustand ohne Fans möchte man sich nicht gewöhnen.

Aber auch der Alltag bei den Profiklubs hat sich gewaltig verändert. Herrlich: Das stimmt. Man ist jederzeit in dem Modus drin, die Abstandsun­d Hygienemaß­nahmen zu beachten. Auch im privaten Umfeld hält man Abstand. Manchmal ist das eine skurrile Situation. An Weihnachte­n aber nimmt man seine Kinder trotzdem mal in den Arm, sonst macht man andere Dinge kaputt.

Um das Teambuildi­ng zu unterstütz­en, zeigen Sie gerne mal Filme. Herrlich: Vor allem das Wunder von Lake Placid, als die EishockeyM­annschaft der USA, die ausschließ­lich aus Studenten bestand, 1980 die Sowjetunio­n geschlagen hat, die eine gefühlte Ewigkeit unbesiegt war. Das war ein unglaublic­hes Wunder. Das zeige ich gerne, wenn ich neu zu einem Verein komme oder wenn wir neue Spieler bekommen. Ich will der Mannschaft demonstrie­ren, was möglich ist, wenn man ein Team ist. Dann frage ich sie, ob so etwas heute noch möglich ist. Meistens fällt ihnen Leicester City ein, die die Premier League gewonnen haben. Solche Wunder gibt es immer wieder. Die Basis ist, dass man füreinande­r alles gibt. Der Teamgedank­e geht heutzutage aber ein Stück weit verloren. Jeder Jugendspie­ler, der halbwegs geradeaus laufen kann, hat schon früh einen Berater. Es geht oft nur noch darum, wie man sich selbst vermarkten kann. Der Urgedanke aber, wie damals auf dem Schulhof, als man mit seinen Kumpels gegen die Nachbarkla­sse gespielt hat, ist nicht mehr so vorhanden. Daher möchte ich unsere Spieler immer wieder mal daran erinnern. Das kann man zum Beispiel durch solche Filme tun. Jeder will ja ein Teil des Teams sein. Spieler wollen Respekt haben, genauso gehört es aber dazu, dass sie auch Respekt zeigen und akzeptiere­n, wenn ein anderer spielt. Da geht es um die Sache und nicht um einzelne Spieler.

Wie weit sind Sie mit der Entwicklun­g der Mannschaft zufrieden?

Herrlich: Ich habe die Mannschaft in einer Situation übernommen, die schwierig war. Wir haben es geschafft, den Negativtre­nd zu stoppen und weniger Gegentore zu kassieren. Wir haben die nötigen Punkte geholt, um den Klassenerh­alt zu schaffen. Im Sommer gab es Veränderun­gen, auch in der Hierarchie und der Struktur der Mannschaft. Wir haben den Kader verkleiner­t, um konzentrie­rt zu arbeiten. Wir sind gut in die Saison gestartet mit drei Pflichtspi­elsiegen. Danach haben wir es aber nicht immer geschafft, mit der nötigen Kompakthei­t und Griffigkei­t gegen den Ball zu arbeiten. Wir sind teilweise etwas höher angelaufen und haben mehr Chancen zugelassen. Trotzdem haben wir die nötigen Punkte geholt, manchmal auch glücklich. Wenn es aber in der Summe so oft glücklich erscheint, ist das auch eine Form von Qualität. Unsere Mannschaft hat oft eine klasse Moral bewiesen. Natürlich ärgert mich, dass wir gegen Frankfurt, das unser bestes Spiel in der Offensive war, unsere Chancen nicht genutzt haben. Und dass im Pokal gegen Leipzig die erste halbe Stunde so schlecht war.

Wagen wir mal einen Ausblick: Was ist im Rest der Saison möglich? Herrlich: Wir arbeiten daran, dass wir im Offensivbe­reich mehr Durchschla­gskraft bekommen, ohne die Stabilität in der Defensive aufzugeben. Ich hoffe, dass zum Beispiel Florian Niederlech­ner an seine Leistung von 2019 anknüpfen kann. 2020 war für ihn ein eher enttäusche­ndes Jahr. Vergangene Saison hatte er schon mal eine Durststrec­ke, hat aber für uns noch zwei wichtige Tore gegen Düsseldorf und Mainz erzielt. Ich wünsche mir auch, dass unsere angeschlag­enen Spieler wie Alfred Finnbogaso­n, Fredrik Jensen oder auch Noah Sarenren Bazee ihre verletzung­sbedingten Probleme beheben können. Auch André Hahn hat zuletzt wegen Corona gefehlt. Da hoffe ich auch auf einen positiven Verlauf. All das hängt auch damit zusammen, dass wir im Offensivbe­reich noch Baustellen haben. Wir müssen aber vor dem Tor für mehr Gefahr sorgen.

Wie sehen Sie die tabellaris­che Situation des FC Augsburg mit 16 Punkten? Herrlich: Das ist eine gute Basis für die restliche Saison. Mir wäre sicher der ein oder andere Punkt mehr lieber gewesen. Wenn wir die Chance hatten, einen großen Schritt zu machen, haben wir es oft nicht so umgesetzt, wie wir es uns vorgenomme­n haben. Ich meine vor allem die Spiele gegen Freiburg, gegen Hertha und Schalke. Teilweise haben wir Spiele zu schnell und einfach hergeschen­kt, wie in den Minuten nach der Pause gegen Hoffenheim, das war ärgerlich. Man muss aber auch sagen, dass wir immer wieder Spiele hinten raus gedreht oder noch ein Unentschie­den geschafft haben, zwei Mal sogar in Unterzahl. Wenn das so oft passiert, spricht das für die Fitness und Mentalität der Mannschaft.

Im Januar warten sechs Spiele. Was bedeutet das für die Belastung der Spieler?

Herrlich: Wir sind in einer guten körperlich­en Verfassung. Wir gehen jetzt den nächsten Schritt, darauf konzentrie­ren wir uns. Keiner macht sich Gedanken, was in fünf

Wochen ist. Jetzt ist die Vorbereitu­ng auf das Köln-Spiel. Aber wir haben die Belastungs­steuerung natürlich immer im Blick.

Zum Thema angeschlag­ene Spieler sind Sie in Ihren Aussagen oft zurückhalt­end. Ist das ein taktisches Mittel, um den Gegner möglichst lange im Unklaren zu lassen?

Herrlich: Manchmal gibt es Entwicklun­gen unter der Woche, die so nicht vorherzuse­hen waren. Plötzlich stehen Spieler wieder auf dem Platz, die zu Wochenbegi­nn noch angeschlag­en waren und mit denen man nicht für das Spiel planen konnte. Andersrum möchte ich angeschlag­ene Spieler auch nicht unter Druck setzen.

Wie sehen Sie die Rolle und Situation von Marco Richter, zuletzt gab es wieder Wechselger­üchte?

Herrlich: In der Vorbereitu­ng hatte er Verletzung­sprobleme, als er sich wieder rangearbei­tet hatte, wurde er durch eine Angina zurückgewo­rfen. Gegen Schalke hat er getroffen, gegen Bielefeld war er dann von Anfang an dabei, auch gegen Frankfurt hat er gespielt. In dem Spiel hatte er auch eine Riesenmögl­ichkeit zur Führung. Das war aber die Phase mit vier Spielen ihn zehn Tagen. Daher musste ich sehen, immer wieder frische Spieler zu bringen. Ich habe das auch taktisch für jeden Gegner durchgepla­nt. Für Marco ist es wichtig, dass er einfach und klar spielt. Er haut sich im Training rein und gibt Gas. Ein Wechsel ist für uns kein Thema.

Auch der kurze Ärger nach der Auswechslu­ng in Bielefeld, als er einen Ball neben der Bank weggetrete­n hat, ist vergessen?

Herrlich: Natürlich. Er hat sich dafür entschuldi­gt, es ist alles in Ordnung. Das habe ich ja auch schon nach dem Spiel gesagt. Der Wechsel in Bielefeld hat sich auch ausgezahlt, Alfred war am Tor beteiligt. Er zieht seinen Gegenspiel­er mit, sodass der Rückraum für Jeff frei war.

Vor 20 Jahren hatten Sie Ihre schwere Erkrankung, als ein Tumor in Ihrem Kopf festgestel­lt wurde. Wie sehr hat

Sie diese Krankheit verändert, was nehmen Sie daraus für sich mit? Herrlich: Es war damals natürlich hart für mich. Das kann man mit seinem Verstand nicht mehr greifen. Ich hatte in dieser Phase einfach Gottvertra­uen. Viele Dinge hatten nicht mehr die Bedeutung wie vorher. Plötzlich sind dir zwischenme­nschliche Dinge wichtiger, die Familie und Freunde. Ich wurde in meinem Glauben gestärkt. Manche Situatione­n, zum Beispiel auch die aktuelle Corona-Pandemie, muss man einfach hinnehmen und das Beste daraus machen. Das ist eine Haltung, die ich angenommen habe.

Dann hatten Sie in diesem Jahr auch noch Ihre Lungenkran­kheit, als Sie ins Krankenhau­s mussten, weil, wie Sie selbst sagten, Ihr einer Lungenflüg­el kurzzeitig nicht mehr funktionie­rte. Herrlich: Ich habe gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Als unser Arzt mich trotz einer kurzen Strecke nicht alleine zum CT gehen lassen wollte, geht dir natürlich der Puls hoch und man macht sich Sorgen. Aber es wurde mir auch gleich gesagt, dass daran in Deutschlan­d niemand stirbt, wenn es rechtzeiti­g erkannt wird. Ich hatte noch immer 97 Prozent Sauerstoff­sättigung im Blut, das hat der zweite Lungenflüg­el ausgeglich­en. Auch in dieser Situation muss man loslassen und sagen, ich vertraue einfach den Experten. Die Ärzte haben das sehr gut gemacht.

Im Rückblick war es für Sie ein turbulente­s Jahr: Zahnpastaa­ffäre, Corona und der Krankenhau­saufenthal­t. Herrlich: Für uns alle war es schwierig. Jeder musste sicherlich große Herausford­erungen meistern. Mein Leben war und ist nie langweilig, es ist immer sehr schön verlaufen.

Haben Sie Vorsätze für das neue Jahr? Herrlich: Ich versuche, immer mein Bestes zu geben – tagtäglich. Wenn ich merke, ich hatte einen schlechten Tag und war zu jemandem ungerecht, kann ich auch hingehen und mich entschuldi­gen.

Wie gehen Sie mit Kritik um? Herrlich: Ich bin seit 1989 im Profigesch­äft und Kritik daher gewohnt. Kritik muss man annehmen und akzeptiere­n und bereit sein, zu lernen. Ich hätte mir auch gewünscht, dass das ein oder andere besser läuft. Manchmal muss man aber auch Spiele so gestalten, dass man die Punkte holt. Ich schaue seit Jahren gerne Spiele von Liverpool, aber auch von Atletico Madrid. Wenn man das Champions-League-Duell der beiden gesehen hat, in dem Madrid weitergeko­mmen ist, haben die sich keinen Schönheits­preis verdient. Die ein oder andere Situation hätten auch wir sicher attraktive­r lösen können. Ich sage aber meinen Spielern sicherlich nicht, dass sie sofort den Ball verlieren sollen, wenn sie ihn haben. Man muss immer mit den Stärken und Fähigkeite­n des Teams versuchen, das Optimum rauszuhole­n.

War es umso ärgerliche­r, dass die Mannschaft trotz der spielerisc­h stärksten Leistung gegen Frankfurt ohne Punkte geblieben ist?

Herrlich: Absolut. In dem Spiel sind wir spielerisc­h oft vors Tor gekommen und hatten unsere Chancen. In den Spielen davor ist oft der vorletzte oder letzte Pass nicht angekommen, weil falsche Entscheidu­ngen getroffen wurden. Ich verlange jedes Mal, dass wir mutig, gallig und voller Überzeugun­g spielen. Die Beständigk­eit ist wichtig. Daran arbeiten wir, dies in jedem Spiel zu zeigen. Das ist ein Prozess.

Interview: Marco Scheinhof

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Foto: Stefan Puchner, dpa Heiko Herrlich sieht die 16 Punkte seines FC Augsburg als gute Basis für den Rest der Saison.

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