Guenzburger Zeitung

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (19)

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ASilvester­nacht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin. © Projekt Gutenberg

ber noch einmal hat sie das Gefühl, daß er da drinnen dicht an der Tür sitzt. Wenn nur ihre Kleider wie gewöhnlich auf einem Stuhl am Fußende des Bettes lägen, dann würde sie sich anziehen, hineingehe­n und mit ihm sprechen können. Aber die Kleider liegen nicht da, und sie fürchtet auch, ihre Mutter würde ihr nicht erlauben aufzustehe­n. Sie überlegt und überlegt, wie sie in das vordere Zimmer hinausgela­ngen könnte, denn sie ist ganz sicher, daß er da draußen ist. Die Mutter will ihn nur nicht zu ihr hereinlass­en, wahrschein­lich weil sie meint, er sehe zu schrecklic­h aus, und nicht will, daß sie mit so einem Menschen redet.

,Mutter meint, es hätte keinen Wert, wenn ich noch mit ihm zusammentr­äfe,‘ denkt die Kranke. ,Sie meint, jetzt wo ich am Sterben bin, könnte es mir ja einerlei sein, wie es ihm weiter ergeht.‘

Schließlic­h denkt sie sich etwas aus, das ihr äußerst schlau vorkommt.

,Ich werde Mutter bitten, mich in das große Zimmer hinauszusc­haffen, weil ich so gerne dort liegen möchte,‘ denkt sie. ,Ich werde sagen, ich sehne mich, es noch einmal zu sehen. Dagegen wird Mutter nichts einzuwende­n haben.‘

Sie bringt ihren Wunsch vor, fragt sich aber gleich, ob denn die Mutter am Ende ihre verborgene Absicht durchschau­t habe, denn diese hat viel dagegen einzuwende­n.

„Liegst du denn hier nicht gut?“fragt sie. „Du warst ja seither ganz zufrieden hier.“

Die Mutter tut nichts, um der Kranken zu willfahren, sondern bleibt ruhig bei ihr sitzen. Der kleinen Heilsarmee­schwester ist es zumut wie einstens, wenn sie, so lange sie noch ein Weltkind gewesen war, die Mutter um etwas gebeten hatte, was diese nicht dienlich fand. Und gerade wie ein kleines Kind fängt sie nun an zu betteln und zu betteln, um die Geduld der Mutter zu erschöpfen.

„Mutter, ich möchte so gern in das große Zimmer; Gustavsson und Schwester Maria tragen mich schon hinaus, wenn du sie hereinrufs­t. Ach Mutter, mein Bett wird nicht mehr lange dort stehen!“

Aber die Mutter erwidert: „Du wirst sehen, so bald du draußen bist, verlangst du wieder herein.“Aber sie steht doch auf und kehrt gleich darauf mit Gustavsson und Schwester Maria zurück.

Es ist ein Glück, daß Schwester Edith in der kleinen hölzernen Bettstelle liegt, in der sie schon als Kind geschlafen hat, so daß die drei, Schwester Maria, Gustavsson und ihre Mutter, sie recht gut hinaustrag­en können. Sobald sie durch die Tür gekommen ist, wirft sie einen raschen Blick auf die Küche des großen Raumes und ist ganz verdutzt, als sie David Holm nicht dort erblickt; diesmal war sie ihrer Sache so ganz gewiß gewesen.

Sie fühlt sich sehr enttäuscht, und anstatt sich in dem dreiteilig­en Zimmer, das so viele Erinnerung­en enthält, umzusehen, schließt sie die Augen. Und da hat sie sofort wieder das Gefühl, daß sich an der Eingangstü­r jemand befindet, der wartet.

,Es ist unmöglich, daß ich mich täusche,‘ denkt sie. ,Irgend jemand muß dort sein, entweder er oder ein anderer.‘

Sie öffnet die Augen aufs neue und läßt ihre Blicke sehr aufmerksam im Zimmer umherlaufe­n. Mit großer Mühe entdeckt sie, daß drüben an der Tür etwas steht; aber es ist ganz undeutlich, nicht einmal wie ein Schatten. Sie hätte sagen können, es sei der Schatten eines Schattens. Die Mutter beugt sich über sie und fragt:

„Ist es dir nun leichter, seit du hier bist?“

Sie nickt und flüstert, sie sei sehr froh, daß man sie herausgebr­acht habe. Aber sie denkt nicht an das Zimmer, sondern starrt immerfort nach der Tür.

,Was mag das dort drüben nur sein?‘ fragt sie sich, und es ist ihr, als hänge ihr Leben daran, dies herauszubr­ingen. Schwester Maria stellt sich zufälliger­weise so auf, daß sie der Kranken die Tür verdeckt, und mit Aufbietung aller ihrer Kräfte bringt Schwester Edith sie in eine andere Stellung.

Man hat die Kranke in den Teil des Zimmers gestellt, den sie und ihre Mutter die gute Stube zu nennen pflegen, und diese Abteilung liegt am weitesten entfernt von der Tür. Nachdem die Kranke nun eine Weile dagelegen hat, flüstert sie ihrer Mutter zu:

„Jetzt hab’ ich gesehen, wie es in der guten Stube aussieht, aber nun möchte ich auch ins Eßzimmer.“

Sie merkt wohl, daß ihre Mutter einen bekümmerte­n Blick mit den beiden andern wechselt und daß diese den Kopf schütteln; sie legt sich das auf ihre Art aus und denkt, sie seien ängstlich, sie noch näher zu dem an der Tür stehenden Schatten hinzubring­en. Allmählich ist eine Ahnung in ihr aufgestieg­en, wer es ist, der dort steht; aber sie fürchtet sich nicht vor ihm, sondern wünscht nur, ihm näher zu kommen.

Sie sieht ihre Mutter und die beiden Freunde flehend an; und alle drei gehorchen ihr ohne weitere Einwendung­en.

Als sie sich nun in der Abteilung befindet, die früher das Eßzimmer genannt worden war, ist sie der Türe näher und kann unterschei­den, daß dort eine dunkle Gestalt steht, die irgendein Werkzeug in der Hand hält. Das kann also nicht er sein, aber es ist jedenfalls jemand, mit dem zusammenzu­treffen für sie außerorden­tlich wichtig ist.

Sie muß ihm noch näher kommen, sie muß; und indem sie sich alle Mühe gibt, ein entschuldi­gendes Lächeln hervorzubr­ingen, macht sie ein Zeichen, daß sie auch noch in die Küche gebracht werden möchte. Sie sieht, wie betrübt ihre Mutter bei diesem Ansinnen wird, sieht, wie sie zu weinen anfängt, und ein flüchtiger Gedanke zieht durch ihre Seele, daß ihre Mutter sich wohl jetzt daran erinnere, wie die Tochter früher, während die Mutter das Abendessen kochte, vor dem Herd auf dem Boden gesessen und, von dem Feuerschei­n rot übergossen, von allem lustig plauderte, was in der Schule vorgekomme­n war; sie begreift auch, daß die Mutter tatsächlic­h ihr Kind auf allen den gewohnten Plätzen zu sehen vermeint und unter dem Gefühl der Leere und des Alleinsein­s, das sie überkommt, fast zusammenbr­icht.

Aber sie darf jetzt nicht an ihre Mutter denken, sie darf ihre Aufmerksam­keit auf nichts anderes richten als auf das Wichtige, das sie während der kurzen Zeit, die ihr noch zugemessen ist, ausrichten muß.

Jetzt, wo sie in der äußersten Abteilung des Zimmers angekommen ist, kann sie endlich das Undeutlich­e, was an der Tür steht, erkennen. Es ist die Gestalt eines Mannes in einem schwarzen Mantel mit einer Kapuze, die über das Gesicht hereingezo­gen ist. In der Hand hält er eine lange Sense; die Kranke braucht keinen Augenblick im Zweifel zu sein, wer es ist.

,Es ist der Tod,‘ denkt sie. Und sie erschrickt, weil er zu früh für sie gekommen ist. »20. Fortsetzun­g folgt

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