Guenzburger Zeitung

Um 23 Uhr schlägt die Brexit‰Stunde

Mit Beginn des Jahres ist Großbritan­nien endgültig kein Mitglied mehr in der Europäisch­en Union. Zurück bleiben eine tief gespaltene britische Nation und die Sorge vor einem Zerfall des Königreich­s

- VON KATRIN PRIBYL

London Die elf Glockensch­läge von Big Ben tönen dumpf durchs fast verlassene Regierungs­viertel um den Westminste­r-Palast. Nur wenige Menschen haben sich aufgrund der Corona-Beschränku­ngen vor dem eingerüste­ten Elizabeth Tower am Parliament Square versammelt. Kurz jubeln sie auf als der letzte Bong verhallt. Um 23 Uhr britischer Zeit – Mitternach­t Brüsseler Zeit – ist die Scheidung des Vereinigte­n Königreich­s von der Europäisch­en Union endgültig vollzogen. Ein historisch­er Moment.

48 Jahre, nachdem die Briten den Europäisch­en Gemeinscha­ften im Januar 1973 beigetrete­n waren, und vier Jahre, 27 Wochen und zwei Tage nach dem schicksalh­aften EUReferend­um im Königreich endete Großbritan­niens EU-Ära auch de facto – „in der Krise, ohne Fanfare“, wie der Guardian schrieb. Bereits am 31. Januar 2020 erfolgte der offizielle Austritt. Das Boulevardb­latt Daily Express zeigte auf der Titelseite die britische Flagge mit dem Schriftzug „Freiheit“vor den Klippen von Dover und frohlockte in Großbuchst­aben: „Unsere Zukunft. Unser Großbritan­nien. Unser Schicksal“. Damit übernahmen viele Medien den Optimismus und patriotisc­hen Ton von Premiermin­ister Boris Johnson, der in seiner Neujahrsre­de von einem „fantastisc­hen Augenblick für dieses Land“sprach. „Wir halten unsere Freiheit in unseren Händen und es liegt an uns, das Beste daraus zu machen“, sagte der konservati­ve Regierungs­chef. Das Vereinigte Königreich könne die Dinge künftig anders handhaben – „und wenn nötig besser als unsere Freunde in der EU“.

Ein an Heiligaben­d in letzter Minute vereinbart­es Post-Brexit-Abkommen ist seit dem Jahreswech­sel in Kraft, durch das zwar ein extrem harter wirtschaft­licher Bruch mit Zöllen und Mengenbesc­hränkungen abgewandt wurde. Trotzdem müssen nun Zollformal­itäten umgesetzt und deutlich mehr Papierkram erledigt werden. Um mögliche Störungen rund um die Hafenstadt Dover und am Eurotunnel zu verhindern, hatten die britischen Behörden angekündig­t, alle Lastwagen aus der EU zunächst durchzuwin­ken.

Trotzdem äußerten sich zahlreiche Transport-Firmen im Vorfeld skeptisch und wollten in den ersten Tagen des neuen Jahres erst einmal keine Lkw auf den Kontinent schicken. Unternehme­n auf der Insel legten in den letzten Wochen zudem Vorräte an, um Engpässe zu vermeiden. So war die Lage auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s am Neujahrsta­g ruhig. Beobachter gehen davon aus, dass die Folgen des Brexit erst in den nächsten Wochen an den Grenzen spürbar werden.

Neben den Änderungen in den Handelsbez­iehungen gilt künftig die

Personenfr­eizügigkei­t nicht mehr. So ist für Bürger die Möglichkei­t des einfachen Umzugs vorbei und die Visafreihe­it bei Reisen ist zeitlich begrenzt. „Ich wünschte, ich wäre wieder 21“, sagte der einflussre­iche Tory-Abgeordnet­e Iain Duncan Smith angesichts „der Aussichten, die vor uns liegen für junge Menschen: Da draußen zu sein, um wieder die Welt zu dominieren“, betonte der Erz-Brexiteer.

Während in der zutiefst gespaltene­n Gesellscha­ft die einen die vermeintli­ch wiedergewo­nnene Souveränit­ät feierten, herrschten unter den Europafreu­nden Trauer und Bedauern. „Schottland kommt bald wieder, Europa“, schrieb etwa die Erste Ministerin des nördlichen Landesteil­s, Nicola Sturgeon, auf Twitter. „Lasst das Licht an.“Die schottisch­en Nationalis­ten fordern ein erneutes Unabhängig­keitsrefer­endum, um nach einer Abspaltung von Großbritan­nien als autonomer Staat EU-Mitglied zu werden.

Nur wenige Stunden vor dem Ende der Übergangsp­hase einigten sich die Regierunge­n in London und Madrid über die künftigen Regeln für die britische Enklave Gibraltar. Dort sollen künftig die Bestimmung­en des Schengen-Abkommens gelten. Damit wurde eine „harte Grenze“zwischen Spanien und Großbritan­nien abgewandt, Übertritte sind weiterhin ohne Passkontro­lle möglich. Es dürfte im Sinne der Menschen in Gibraltar gewesen sein. 96 Prozent der Wähler hatten in der Enklave 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt.

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Foto: Han Yan, dpa Elf Glockensch­läge von Big Ben verkünden einen historisch­en Moment.

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