Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (20)
Silvesternacht. Stark alkoholisiert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben der erlösen müssen. Eine Schauergeschichte mit sozialem Appell der ersten Literaturnobelpreisträgerin. © Projekt Gutenberg
Während die arme Kranke immer näher zur Tür herangetragen wurde, hat sich der am Boden liegende gefesselte Schemen zusammengekrümmt, als wollte er versuchen, der Aufmerksamkeit der Kranken zu entgehen. Er sieht, daß sie unaufhörlich nach der Tür schaut, und er vermutet, daß sie da etwas unterscheiden kann. Aber sie soll ihn nicht sehen, das wäre eine zu große Demütigung für ihn. Ihre Blicke sind auch nicht auf ihn gerichtet, sondern auf den anderen, und da denkt er, wenn sie überhaupt etwas sehe, so sei nicht er es, sondern Georg. Kaum ist die Kranke indes ganz nahe herangekommen, als er sieht, daß sie mit einer leichten Kopfbewegung Georg an ihr Bett herruft. Georg zieht, wie wenn er fröre, den Mantel fester um sich zusammen und tritt an ihr Lager. Sie sieht ihn mit einem herzbewegenden Lächeln an.
„Du siehst, daß ich keine Angst vor dir habe,“flüstert sie fast lautlos. „Ich folge deinem Rufe gerne,
möchte dich aber zuerst fragen, ob du mir nicht bis morgen Aufschub gewahren könntest, damit ich die große Aufgabe vollenden könnte, deretwegen mich Gott in die Welt geschickt hat.“
Während sie auf diese Weise von ihrer Unterredung mit Georg ganz erfüllt ist, hat David Holm den Kopf aufgehoben und sieht sie an; und da sieht er, daß ihr die heilige Erhabenheit ihres Geistes eine Schönheit verliehen hat, die sie früher nie gehabt hatte, etwas so Stolzes, Hohes, Unerreichbares, aber so unwiderstehlich Anziehendes, daß er seine Augen nicht mehr abwenden kann.
„Du verstehst mich vielleicht nicht,“sagt sie zu Georg. „Neige dich näher zu mir her. Ich muß mit dir reden, aber die anderen sollen nicht hören, was ich sage.“
Georg beugt sich so weit vor, daß seine Kapuze fast ihr Gesicht berührt.
„Sprich so leise wie du willst,“sagt er. „Ich werde es doch verstehen.“
Da fängt sie in ganz leisem Flüsterton an, und keines von den dreien, die um ihr Bett stehen, hat eine Ahnung, daß sie überhaupt etwas sagt. Nur der Fuhrmann und der andere Schemen hören sie.
„Ich weiß nicht, ob du dir auch bewußt bist, um was es sich für mich handelt,“sagt sie zu Georg, „Ich brauche notwendig einen Aufschub bis morgen, damit ich mit dem zusammentreffen kann, den ich auf den rechten Weg führen muß. Du weißt, wie schlecht ich gehandelt habe. Ich bin eigenmächtig und verwegen gewesen. Wie sollte ich vor Gottes Angesicht treten können, ich, die ein so großes Unglück verschuldet hat?“
Ihre Augen öffnen sich vor Angst weit, und sie ringt schwer nach Atem, fährt dann aber gleich fort, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Ich muß dir wohl mitteilen, daß der Mann, mit dem ich noch reden möchte, eben der ist, den ich liebe. Du verstehst mich doch wohl? Der Mann, den ich liebe.“
„Aber Schwester Edith,“erwidert der Fuhrmann, „der Mann“
Sie will jedoch seine Antwort nicht hören, ehe sie alles vorgebracht hat, was ihn erweichen soll.
„Ach, du begreifst, wie schwer es für mich ist, das zu sagen. Die Erkenntnis, daß ich gerade diesen Mann liebe, bedrückt mich schwer.
O wie hab ich mich geschämt, daß ich so heruntergekommen sein soll, einen Mann zu lieben, der an eine andere gebunden ist. Ich habe dagegen gekämpft und gestritten, und es war mir, als sei ich, die eine Führerin und Helferin der Elenden sein sollte, schlechter als die schlechtesten unter ihnen geworden.“Georgs eine Hand streicht ihr wie beruhigend über die Stirne; aber er sagt nichts, sondern läßt sie fortfahren.
„Aber die größte Demütigung liegt doch nicht darin, daß ich einen verheirateten Mann liebe. Die tiefste Erniedrigung liegt darin, daß er ein böser und schlechter Mensch ist. Ich weiß nicht, warum ich mich an einen solchen Lumpen weggeworfen habe. Ich hatte gehofft, hatte geglaubt, es sei etwas Gutes an ihm, aber ich bin immer enttäuscht worden. Ach, ich muß selbst schlecht sein, da sich mein Herz so hat verirren können! Ach, kannst du nicht begreifen, daß es ganz unmöglich für mich ist, fortzugehen, ohne noch einen Versuch gemacht zu haben, ihn zu einem anderen Menschen zu machen?“
„Du hast ja schon so viele Versuche gemacht,“antwortet Georg ausweichend.
Sie schließt die Augen und überlegt, schlägt sie aber bald wieder auf, und jetzt leuchtet eine neue Zuversicht aus ihrem Gesicht.
„Du meinst, ich bitte nur meinetwegen, und denkst wie die anderen, es könne mir einerlei sein, wie es ihm weiter ergeht, ich müsse ja doch alles Irdische hinter mir lassen. Ich muß dir aber noch etwas sagen, was ich heute erlebt habe, damit du verstehst, daß ich den Aufschub brauche, um anderen zu helfen.“
Sie schließt die Augen und spricht weiter, ohne sie wieder zu öffnen:
„Siehst du, es war heute Vormittag. Ich verstehe jetzt nicht mehr recht, wie es sein konnte, aber ich war mit einem Korb am Arm unterwegs, um einem Notleidenden Essen zu bringen. Plötzlich stand ich auf einem Hof, wo ich noch niemals gewesen war. Er war rings von hohen Häusern eingeschlossen, die ordentlich und gut im Stand aussahen, wie wenn wohlhabende Leute darin wohnten. Ich wußte nicht, was ich an diesem Ort zu tun haben sollte, und sah mich unschlüssig um; da entdeckte ich an der einen Häusermauer eine Art Anbau, der eigentlich aussah, als sei er ursprünglich zu einem Geflügelhaus bestimmt gewesen, den man aber neuerdings in eine menschliche Wohnung einzurichten versucht hatte. Da und dort waren einzelne Bretter und Stücke von Pappe aufgenagelt, auch ein paar schiefe Fenster eingesetzt, und aus dem Dach ragten zwei Ofenrohre heraus.
Aus dem einen dieser Rohre stieg ein dünner Rauch empor, und da ich daran erkannte, daß dieser Bau bewohnt war, sagte ich zu mir: ,Selbstverständlich muß ich hier hin.‘
Ich stieg eine hölzerne Treppe hinauf, die steil wie eine Leiter war und mir noch einmal den Eindruck machte, als begebe ich mich in eine Art Vogelschlag, und legte die Hand auf die Klinke der Eingangstür. Sie war unverschlossen, und da ich Stimmen drinnen hörte, trat ich ein, ohne anzuklopfen.
Niemand wendete sich nach mir um, als ich hereinkam. Ich zog mich in einen Winkel an der Tür zurück und blieb da stehen, bis man mich brauchen würde. Denn ich wußte ganz bestimmt, daß ich wegen einer ganz besonders wichtigen Sache hergekommen war.
Während ich nun da wartete, drängte sich mir unwillkürlich der Gedanke auf, daß ich hier in irgendein Wirtschaftsgebäude und nicht in eine menschliche Wohnung gekommen sei. Es war kaum ein Möbelstück zu sehen, nicht einmal ein Bett. In einer Ecke lagen ein paar schmutzige Matratzen, die offenbar als Betten dienten. Keine Stühle waren da, wenigstens keine in einem Zustand, daß man sie hätte verkaufen können, und nur ein plumper roher Tisch.
»21. Fortsetzung folgt