Guenzburger Zeitung

Am Haken der Brexit‰Politiker

Was hatte Premiermin­ister Boris Johnson den britischen Fischern nicht alles versproche­n. Sie würden die Hoheit über die eigenen Gewässer zurückgewi­nnen, eine großartige Zukunft erwarte sie. Nun steht das Abkommen mit der EU – und die Fischer fühlen sich v

- VON KATRIN PRIBYL

Brixham Es bietet sich aus gegebenem Anlass an, diese Geschichte mit dem guten Fisch zu beginnen. Vielleicht ist dieser Ansatz gar unausweich­lich. Immerhin, ohne die emotional diskutiert­e Frage, wem all die Heringe, Jakobsmusc­heln und Schollen in den britischen Gewässern gehören, hätte die Welt mit ziemlicher Sicherheit keinen Brexit erlebt und ohne Brexit, nun ja, wäre dies eine ganz andere Geschichte.

Es sind nämlich die britischen Fischer, die lange erwarteten, endlich einmal zu den Gewinnern dieser Zeit zu zählen. In Brixham etwa hofften die Menschen bis zuletzt auf ein Happy End der Brexit-Saga – weg von der grauen Tristesse der vergangene­n Jahre hinein in eine goldene Zukunft mit hohen Fangquoten für ihre Kutter.

Hatte ihnen das der britische Premiermin­ister Boris Johnson nicht mit blumigen Worten jahrelang versproche­n? Der Regierungs­chef kam sogar selbst einmal in das Fischerdor­f in der Grafschaft Kent, das sich stolz als Geburtsort der Trawlerind­ustrie bezeichnet und wo die Boote vor malerische­r Kulisse im Hafen schaukeln. Johnson haute in seiner typischen Art die bekannten Sprüche raus – und die Fischer strahlten, glaubten ihm, wählten ihn später voller Enthusiasm­us. Die Hoheit über die eigenen Gewässer, sie war für viele Briten das Symbol für die wiedergewo­nnene Souveränit­ät.

Nun aber, zum Jahreswech­sel, herrscht Ernüchteru­ng. Die geht nur im allgemeine­n Jubel über den in letzter Minute vereinbart­en Deal zwischen der Europäisch­en Union und Großbritan­nien und „den Anbruch einer neuen Ära“, wie Johnson frohlockte, unter.

Der Skipper Anton Bailey hat an diesem Mittag kurz vor Silvester eine Garnitur Netze geliefert bekommen, die er nun am Hafen in Brixham vor seinem Boot ordnet. Mit dem neuen Material, so ist der Engländer in seinen Gummistief­eln optimistis­ch, wird er im neuen Jahr einen guten Seelachs-Fang einfahren. Immerhin.

Frustriert zeigt er sich dagegen beim Blick auf das Abkommen, das an Heiligaben­d im fernen Brüssel geschlosse­n wurde. Boris Johnson mag den Vertrag in seinem Sinne als Triumph feiern, Fischer wie Bailey zeigen sich dagegen enttäuscht. Alles laufe wie eh und je: „Die Europäer bekommen, was sie wollen, so einfach ist es.“

Der Tenor lautet: Die Regierung habe mit dem Deal die eigene Branche verkauft. „Ich dachte, wir würden einen wunderbare­n Sieg einstreich­en, aber viele der gemachten Verspreche­n wurden nicht eingehalte­n“, konstatier­t Jim Portus, Chef der Gruppe „South Western Fish Producers Organisati­on“, die die Interessen von einem Drittel der

Fischer in den Grafschaft­en Devon und Cornwall vertritt.

Die neue Realität sieht so aus: In den nächsten fünfeinhal­b Jahren werden die Fangrechte für die europäisch­en Fischer, die vor den britischen Inseln ihre Netze, Senken und Reusen auswerfen, nach und nach um 25 Prozent gekürzt. Das klingt nach mehr, als es ist. Ursprüngli­ch hatten die Briten eine Reduzierun­g zwischen 60 und 80 Prozent gefordert. Aus der Sache mit dem britischen Fisch für britische Fischer wurde also nichts, aber die BrexitHard­liner in Westminste­r biegen sich zurzeit die Zugeständn­isse an die EU in ihrem Sinne zurecht – und mit Applaus von den europaskep­tischen Zeitungen und Kommentato­ren belohnt.

Was kümmern sie noch die Fischer? Die fühlen sich verraten und betrogen nach all den zähen Verhandlun­gen, die bis zuletzt an den Makrelen und Heringen stockten, was schon allein erstaunlic­h ist, weil die Industrie mit ihren knapp 440 Millionen Pfund im Jahr lediglich 0,02 Prozent der britischen Wirtschaft­skraft ausmacht. Zum Vergleich: Die Finanzdien­stleistung­en tragen jährlich rund 130 Milliarden Pfund, umgerechne­t etwa 145 Milliarden Euro, zur Wirtschaft bei. Trotz der Bedeutung gibt es im Abkommen noch keine Regelung für die Branche.

Peter Wood gehört zwar nicht zu jenen Briten, die mit ihren Trawlern und ausgestatt­et mit Bannern und Union-Jack-Flaggen für den Austritt Großbritan­niens aus der EU geworben hatten. Aber der Chef des Betriebs „UK Glass Eels“in der Grafschaft Gloucester­shire kennt sich von Berufs wegen mit Fisch aus, sein Fachgebiet sind BabyAale. Aber auch der EU-Austritt lag ihm am Herzen.

Wood nämlich ist nicht nur Unternehme­r, sondern war auch einmal so etwas wie der lokale Posterboy der europaskep­tischen United Kingdom Independen­ce Party (Ukip). Die polterte unter dem damaligen Vorsitzend­en Nigel Farage lautstark und wirksam gegen die EU. Freiheit, Souveränit­ät, Kontrolle, dazu ein Pint Ale und Fish and Chips – es ist das altbekannt­e Lied, das auf der Insel zur BrexitHymn­e wurde.

Und auch Peter Wood stimmte ein, träumte von einem globalen Markt für seine Glasaale, von neuen Möglichkei­ten. Auf dem Wahlzettel machte er 2016 sein Kreuz entspreche­nd beim Brexit, na klar.

Heute steht er in der Halle seiner Farm vor meterlange­n Becken, in denen zehntausen­de Glasaale herumschwi­mmen. Seit 50 Jahren werden die beinahe durchsicht­igen Jungformen des Flussaals im nahen Severn gefangen und in seinem Betrieb gemästet, bevor die schlangenf­örmigen Tiere exportiert werden – nach Deutschlan­d, Schweden, Holland, Griechenla­nd. Alle seine Kunden sitzen in der EU. Die Frage ist: Wie lange noch?

Den Chef des Fischereib­etriebs treibt die Sorge um, dass ihm sein Geschäft aufgrund des EU-Austritts ebenso entgleiten könnte, wie die zappelnden und glitschige­n Aale oft beim Herausfisc­hen aus den Becken entkommen. Wie soll er mit Konkurrent­en in Frankreich mithalten, wenn sowohl er als auch seine Kunden, an die er seine Baby-Aale dreimal pro Woche liefert, deutlich mehr Papierkram zu bewältigen haben?

Seit dem 1. Januar ist die Scheidung des Vereinigte­n Königreich­s von der EU endgültig vollzogen. Die Briten sind raus aus dem EUBinnenma­rkt und der Zollunion. Zwar wurde mit dem Post-BrexitAbko­mmen ein extrem harter wirtwerden schaftlich­er Bruch mit Zöllen und Mengenbesc­hränkungen vermieden. Trotzdem müssen nun Zollformal­itäten umgesetzt und deutlich mehr Formalität­en erledigt werden. Zudem sind an den Grenzen künftig Kontrollen notwendig, weil Standards überprüft werden müssen, unter anderem bei Agrarprodu­kten.

„Ich hätte niemals für den EUAustritt gestimmt, wenn ich gewusst hätte, dass wir unseren Job verlieren“, so Wood, dessen Firma zwei Millionen Pfund pro Jahr Umsatz macht und zehn Angestellt­e hat. „Man sollte vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht.“

Die Worte des einstigen BrexitWähl­ers, die er kürzlich gegenüber

Medien äußerte, sorgten im Kreis der EU-Freunde auf Twitter wahlweise für einen Sturm der Entrüstung oder eine Welle des Mitleids. „Trostlos. Tragisch. Fesselnd.“kommentier­te den Sinneswand­el etwa der britische Schauspiel­er Hugh Grant, der sich in den vergangene­n Jahren als glühender BrexitGegn­er und Kritiker der konservati­ven Regierung profiliert­e.

Tatsächlic­h wird sich erst in den nächsten Wochen und Monaten zeigen, was der Brexit wirklich bedeutet. „Wir haben unsere Freiheit in unseren Händen und es liegt an uns, das Beste daraus zu machen“, sagt Boris Johnson, der von Hürden und

Hemmnissen nichts hören und wissen will. In der Wirtschaft­swelt ist jedoch Nervosität spürbar.

Es mag in den ersten Tagen des Jahres keine kilometerl­angen Staus vor dem Hafen in Dover oder am Eurotunnel gegeben haben, was zum einen am Neujahrsta­g und anschließe­nden Wochenende lag. Zum anderen haben Firmen angesichts der unsicheren Lage längst Vorräte angelegt. Zahlreiche Transportu­nternehmen hatten im Vorfeld angekündig­t, ihre Fahrer erst einmal nicht auf den Kontinent zu schicken, um abzuwarten und sich auf die neuen Umstände vorzuberei­ten.

„Wir werden erst ab Mitte Januar merken, ob das mit der Zollabfert­igung klappt“, sagt Ulrich Hoppe, Hauptgesch­äftsführer der deutschbri­tischen Industrie- und Handelskam­mer in London. Doch dieses Problem sei kurzfristi­g und zu bewältigen, der Kostenaufw­and berechenba­r. Mittelfris­tig aber, so prognostiz­iert er, werden sich viele Firmen fragen, ob sich der Aufwand weiter lohnt. „Formalien kosten alle mehr Geld“, so Hoppe.

Hinzu kommt, dass der Wegfall der Personenfr­eizügigkei­t Unternehme­n die Flexibilit­ät nehme. Man müsse abwarten, wie die Briten das Einwanderu­ngsgesetz anpassen. Zu viele Dinge sind noch unklar. „Der Teufel steckt im Detail und viele dieser Details wurden bisher übersehen oder sind nicht genügend berücksich­tigt worden“, sagt der Chef der Außenhande­lskammer.

Tatsächlic­h dürften die Folgen für die Briten deutlich spürbarer werden als für die Deutschen. So flaut etwa wegen des Brexit der Außenhande­l mit dem Königreich seit Jahren ab. Aber auch wenn der Brexit „negative Auswirkung­en auf den bilaterale­n Wirtschaft­sverkehr“habe und das Abkommen äußerst dünn sei: Die Erleichter­ung darüber, dass es überhaupt einen Deal gibt, ist auch in der deutsch-britischen Firmengeme­inschaft groß, sagt Ulrich Hoppe. „Die Alternativ­e eines No Deals wäre noch schlimmer gewesen.“

Das wiederum sehen viele Fischer deutlich anders. Aber ihre Stimme ist längst verhallt.

Die Hardliner biegen sich die Ergebnisse zurecht

In der Wirtschaft herrscht noch immer Nervosität

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Foto: Thibault Camus, dpa Diese französisc­hen Fischer dürfen in den kommenden Jahren deutlich mehr Tiere aus britischen Gewässern holen, als sich das ihre Kollegen auf der Insel gewünscht haben.
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Foto: Tim Ireland/XinHua, dpa Chaos sieht anders aus: Zum Jahreswech­sel hat es am Hafen von Dover keine kilome‰ terlangen Staus gegeben.

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