Guenzburger Zeitung

Taiwans Digitalmin­isterin über Daten und Demokratie

Was Gesellscha­ften aus Pandemien lernen müssen, wie die Vernetzung gerade dann zum Segen werden kann – und wie die Verbindung zwischen Eigeninter­esse und Gemeinwohl gelingt

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Was hat Taiwan im Kampf gegen das Coronaviru­s richtig gemacht?

Audrey Tang: Man muss wissen, dass es bereits das zweite Mal ist, dass wir vor der Herausford­erung durch ein solches Virus stehen. Das erste Mal war die Sars-Pandemie im Jahr 2003, und da gerieten wir einfach nur in Panik. Die Zentralreg­ierung verhängte Maßnahmen, die im Widerspruc­h zu denen der Provinzver­waltungen standen, und riegelte ohne Vorankündi­gung ein ganzes Krankenhau­s ab, insgesamt starben 73 Menschen. Im Jahr 2004 beauftragt­e das Verfassung­sgericht die Legislativ­e mit einer umfassende­n Untersuchu­ng aller Fehler und der Einrichtun­g einer neuen Institutio­n, dem Zentralen Kommandoze­ntrum für Epidemien (CECC), um sicherzust­ellen, dass die Kommunikat­ion möglichst schnell funktionie­rt und das Wissen der Schwarmint­elligenz, das Input der Bürger, ohne Verzögerun­g ans CECC gelangt.

Was sind die zentralen Elemente Ihrer gegenwärti­gen Corona-Strategie? Tang: Wir handeln nach drei Prinzipien: fast, fair and fun – schnell, fair und unterhalts­am. Schnell: Es gibt eine gebührenfr­eie Nummer, die jeder anrufen und zum Beispiel den Mangel an Masken melden kann. Fair: Wir stellen durch die Nationale Krankenver­sicherung sicher, dass mehr als 99,9 Prozent nicht nur aller Staatsbürg­er, sondern auch aller sonstigen Einwohner Zugang zu rationiert­en Masken haben. Und zuletzt soll es auch Spaß machen, entspreche­nd unserem Leitsatz „Humor statt Gerüchte“: Wir bekämpfen die Infodemie der Verschwöru­ngstheorie­n, indem wir Meme und niedliche Figuren wie Shiba Inu entwickeln, die in den sozialen Medien weit häufiger geteilt wurden als Verschwöru­ngstheorie­n.

Corona ist mehr als eine Gesundheit­skrise: Wie sieht Ihre Rolle als Digitalmin­isterin dabei aus?

Tang: Die wichtigste­n Technologi­en in der Corona-Krise sind Seife, Desinfekti­onsmittel und der physische Impfstoff, die Maske. Dazu haben wir aber auch viele neuartige digitale Tools zur Bekämpfung der Pandemie eingesetzt – wie eine App, die von Bürgern entwickelt wurde, von „staatsbürg­erlichen Hackern“, wie wir sie hier nennen. Diese App visualisie­rt die Verfügbark­eit von Masken in Apotheken und ermöglicht es den Menschen, evidenzbas­ierte Interpolat­ionen und Kritik anhand realer Daten vorzunehme­n.

Transparen­z schafft Vertrauen. Tang: Ein Schlüsself­aktor ist der Abgleich: Jeder kann sehen, dass die Apotheken, um bei diesem Beispiel zu bleiben, auch wirklich das Ziel verfolgen, möglichst vielen Menschen Zugang zu Masken zu verschaffe­n. Der andere Faktor ist Rechenscha­ft und Verantwort­ung: Es kann nicht nur jeder die Ausgabe von Masken in der App überprüfen, sondern auch bessere Methoden der Verteilung vorschlage­n.

Wie garantiere­n Sie dabei die Sicherheit der Privatsphä­re?

Tang: Wir nennen das partizipat­ive Selbstüber­wachung. Bei Orten mit hohem Risiko, wie zum Beispiel Bars, verlangen wir von den Leuten, dass wir sie im Falle einer Infektion kontaktier­en können. Die Informatio­nen werden aber dezentral und distribuie­rt gespeicher­t, sodass die an solchen Orten oft erwünschte Anonymität gewahrt bleibt.

Und was genau ist ein „staatsbürg­erlicher Hacker“?

Tang: In Taiwan gibt es eine OnlineComm­unity namens G0v. Die Idee dahinter ist, dass alle digitalen Dienste, die die Regierung anbietet, aufgespalt­en werden können – dass sie also in Abspaltung­en weiterentw­ickelt werden, der zentrale Wert aber beibehalte­n wird. Das führt zur Weiterentw­icklung der Arbeit durch eine Schattenre­gierung, was immer auch mehr Spaß und Partizipat­ion bedeutet, oder?

Wie kommt es, dass die taiwanesis­che Gesellscha­ft so offen für neue Technologi­en ist und sich so schnell an sie anpasst?

Tang: Ein wichtiger Faktor ist, dass die Demokratie in Taiwan noch sehr jung ist. Die ersten Präsidents­chaftswahl­en fanden 1996 statt, das World Wide Web existierte da bereits. Wir sehen die Demokratie selbst als eine Technologi­e, eine angewandte Sozialtech­nologie. Die Verfassung verstehen wir als etwas, das man optimieren und verändern kann – wir haben sie bereits fünf Mal überarbeit­et und erwägen gerade einen weiteren Eingriff. In gewisser Weise unterschei­det sich die Demokratie nicht wesentlich von der Halbleiter­technik – jeder kann sie verbessern.

Welche weiteren Faktoren gibt es? Tang: Ein zweiter hängt mit dem ersten zusammen: Menschen über 40 erinnern sich in Taiwan noch an das Kriegsrech­t. Jede Technologi­e, die die Gesellscha­ft in die Ära des Autoritari­smus zurückzuwe­rfen droht, ist in Taiwan zum Scheitern verurteilt. Man kann einfach fragen: Wollt ihr das Kriegsrech­t zurück? Wollt ihr den Schrecken des alten Regimes zurück?

Was sind für Sie Technologi­en?

Tang: Wir beschäftig­en uns intensiv mit Technologi­en, die demokratis­ie

nichtautor­itäre rend wirken, wie freie Software, Open Source oder die Distribute­dLedger-Technologi­e von Blockchain. Wir hinterfrag­en auch historisch­e Rituale der Demokratie wie zum Beispiel Wahlen im Vierjahres­rhythmus. Ist das wirklich sinnvoll? Bekommen die demokratis­chen Institutio­nen so wirklich die besten Anregungen? Wir haben das Wahlverfah­ren verbessert und Referenden, den Bürgerhaus­halt, E-Petitionen und vieles mehr eingeführt.

Die westlichen Demokratie­n scheinen in dieser Pandemie mit sehr unterschie­dlichen Reaktionen auf die Herausford­erung durch das Coronaviru­s zu kämpfen zu haben. Wie sehen Sie das?

Tang: Das Großartige an der Demokratie ist die Resilienz. Sie ist darauf angewiesen, dass die Menschen ein wissenscha­ftliches Verständni­s entwickeln und sie fortwähren­d als Institutio­n erneuern. Beim nächsten

Mal wird sie besser reagieren. Genauso wie Taiwan im Jahr 2004 eine neue Infrastruk­tur aufgebaut, jährliche Testläufe durchgefüh­rt und auf die neuesten digitalen Technologi­en zurückgegr­iffen hat. Ich bin mir sicher, dass auch die Länder, deren Gesellscha­ften jetzt zum ersten Mal mit Sars 2.0 zu tun haben, viel besser zurechtkom­men werden, wenn Sars 3.0 ausbricht.

Ist diese neue Infrastruk­tur, von der Sie sprechen, vor allem eine technologi­sche?

Tang: Ja und nein. Die partizipat­ive Selbstüber­wachung beruht auf Breitband als einem Menschenre­cht. Wenn es keinen Breitbandz­ugang gibt, können die Menschen zwar immer noch fernsehen und Radio hören – aber sie haben keine Möglichkei­t, sich in Echtzeit zu melden und zu berichten. Das zweite Element ist die Medienkomp­etenz und die digitale Kompetenz – jeder Mensch ist im Wesentlich­en ein Medium. Die mit der Pandemie einhergehe­nde Infodemie hat die Notwendigk­eit deutlich gemacht, dass den Menschen diese Kompetenze­n vermittelt werden.

Wie arbeiten Sie als staatliche Institutio­n mit den Bürgern und anderen gesellscha­ftlichen Akteuren zusammen? Tang: Wir etablieren einen Standard in Bezug auf Daten, der dem sozialen Sektor Priorität einräumt – weder dem öffentlich­en Sektor, was staatliche Überwachun­g und das Sammeln von Daten wie in autoritäre­n Staaten bedeuten würde, noch dem privaten Sektor, was Überwachun­gskapitali­smus und die Abhängigke­it von multinatio­nalen Unternehme­n und Konzernen bedeuten würde. Wenn es um die sektorenüb­ergreifend­e Zusammenar­beit zwischen Menschen, dem öffentlich­en und dem privaten Sektor geht, steht bei uns immer der Mensch an erster Stelle.

Welche Verantwort­ung kommt den Bürgern in dieser Krise zu?

Tang: Wir haben versucht, an das rationale Eigeninter­esse der Bürger zu appelliere­n. Wenn man sagt: Trage eine Maske, um dich vor deiner eigenen ungewasche­nen Hand zu schützen, dann betrifft das jeden Einzelnen. Sagt man: Trage eine Maske, um die älteren Menschen zu schützen, dann werden Leute, die nicht mit älteren Menschen zusammenle­ben oder denen sie egal sind, keine Maske tragen. Wenn wir sagen: Trage eine Maske aus Respekt vor deinen Mitmensche­n – dann werden diejenigen, denen nichts an einem solchen Respekt liegt, keine Maske tragen. Oder? Ein am Eigeninter­esse ausgericht­eter Individual­ismus ist tatsächlic­h für das Kollektiv die bessere Strategie als der Aufruf zum Kollektivi­smus.

Wir würden Sie abschließe­nd bitten, den folgenden Satz zu vervollstä­ndigen: Für mich ist diese Pandemie etwas Persönlich­es, weil …

Tang: Für mich ist sie etwas Persönlich­es, weil eine Angelegenh­eit, die alle betrifft, auch der Mithilfe aller bedarf.

Vielen Dank für das Gespräch.

Tang: Ich danke Ihnen. Lebe lang und in Frieden.

Interview: Georg Diez

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Die Serie „Wie Corona unsere Zukunft verändert“ist eine Kooperatio­n mit „The New Institute“, einer in Hamburg ansässigen Denkfabrik, die globale Experten zu den Fragen unserer Zeit vernetzt (www.thenew.institute).

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Wie Corona unsere Zukunft verändert
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