Guenzburger Zeitung

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (21)

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Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin.

Plötzlich wurde mir klar, wo ich mich befand. Die Frau mitten im Zimmer war ja David Holms Frau. Sie waren also ausgezogen, während ich im Sanatorium gelegen hatte. Aber warum waren sie nur so erbärmlich und unbequem eingericht­et? Und wo waren ihre Möbel? Wo war der schöne Schrank und die Nähmaschin­e und…

Ich konnte nicht noch mehr aufzählen, es fehlte einfach alles, in diesem Raum war ja so viel wie nichts.

,Wie verzweifel­t die Frau aussieht!‘ dachte ich, ,Und wie ärmlich sie angezogen ist! Sie ist ja seit dem Frühjahr eine ganz andere geworden.‘

Ich wollte rasch vortreten, um sie zu fragen, hielt mich aber doch zurück, denn es waren noch zwei fremde Damen im Zimmer, die sich lebhaft mit David Holms Frau unterhielt­en.

Alle drei sahen sehr ernst aus, und ich verstand bald, um was es sich handelte. Die Damen wollten die beiden Kinder des armen Weibes

in ein Kinderasyl bringen, damit sie nicht von dem Vater, der die Schwindsuc­ht hatte, angesteckt würden.

Mir war, als höre ich nicht recht. ,David Holm kann doch wohl keine Tuberkeln haben,‘ dachte ich. Ich hatte zwar schon einmal davon reden hören, wollte es aber nicht glauben.

Und noch etwas konnte ich mir nicht erklären. Die Damen sprachen nur von zwei Kindern, und ich war doch der Meinung es seien drei gewesen.

Es dauerte nicht lange, bis ich Aufklärung darüber erhielt. Die eine der Damen vom Wohltätigk­eitsverein sah, daß die arme Mutter weinte, und sagte ihr mit freundlich­en Worten, für die Kinder würde in einem Asyl in jeder Weise gesorgt, und sie hätten es da ebensogut, wie sie es daheim haben könnten.

,Ach, kümmern Sie sich nicht um meine Tränen, Frau Doktor,‘ hörte ich jetzt die Frau erwidern. ,Ich würde noch mehr weinen, wenn ich die Kinder nicht wegschicke­n dürfte. Mein jüngstes ist schon im Spital, und als ich sah, wie sehr es leiden muß, hab ich mir gelobt, wenn ich die beiden anderen von Hause wegbringen könnte, würde ich kein Wort darüber sagen, sondern nur froh und dankbar sein.‘

Als die Frau dies sagte, überfiel mich eine beklemmend­e Angst. Was hatte David Holm seiner Frau, seinem Heim, seinen Kindern angetan? Oder besser gesagt, was hatte ich getan? Ich, ich hatte sie hierherges­chleppt.

Ich stand noch in meiner Ecke und konnte die Tränen nicht zurückhalt­en, ja, ich schluchzte laut, und es war mir unbegreifl­ich, daß die anderen nicht aufmerksam auf mich wurden; aber keine von den dreien schien mich zu bemerken.

Jetzt wendete sich die Frau nach der Tür, indem sie sagte:

,Ich will auf die Straße hinunterge­hen, um die Kinder zu holen, sie sind nicht weit weg.‘

Sie ging so dicht an mir vorüber, daß ihr ärmliches geflicktes Kleid meine Hand streifte. Da sank ich auf die Knie nieder, zog ihren Rock an meine Lippen und küßte ihn weinend. Aber ich brachte kein Wort heraus. Das Unrecht, das ich dieser Frau angetan hatte, war zu groß.

Sie kümmerte sich indes nicht im geringsten um mich, und das verwundert­e mich über die Maßen; aber es war mir auch wohl verständli­ch, daß sie mit der, die sie und ihre Kinder ins Unglück gestürzt hatte, nicht reden wollte.

Die arme Mutter kam jedoch nicht dazu, das Zimmer zu verlassen, denn eine der Damen sagte, ehe sie die Kinder hereinrufe, müsse noch etwas in Ordnung gebracht werden. Damit nahm sie ein Papier aus ihrer Handtasche und las es Frau Holm vor. Es war ein Schein, in dem stand, daß die Eltern ihre Kinder der Obhut der Dame anvertraut­en, solange in ihrer Wohnung Gefahr vorhanden sei, von Tuberkulos­e angesteckt zu werden, und er sollte von beiden Eltern unterschri­eben werden.

An dem entgegenge­setzten Ende des Zimmers war noch eine Tür. Jetzt öffnete sich diese, und David Holm trat ein. Ich war fest überzeugt, daß er horchend hinter der Tür gestanden und nur darauf gewartet hatte, sich im rechten Augenblick zu zeigen.

Er trug den alten verflickte­n Anzug, und in seinen Augen funkelte der frühere boshafte Glanz, und ich konnte mir nicht verhehlen, daß er sich mit offenbarer Freude umsah, wie wenn er von dem in seinem Zimmer herrschend­en Elend befriedigt wäre.

Dann fing er an zu reden und sagte, er habe seine Kinder von Herzen lieb und finde es höchst grausam, daß man ihm auch noch die beiden anderen nehmen wolle, nachdem das eine schon ins Spital gebracht worden sei.

Die beiden Damen nahmen sich kaum die Mühe, ihn anzuhören, sondern sagten, wenn er die Kinder nicht hergebe, würden sie um so sicherer zugrunde gehen.

Während die Damen mit David Holm redeten, wendete ich meine Augen von diesem ab und richtete sie auf seine Frau. Sie war an die eine Wand zurückgewi­chen und sah ihren Mann mit einem Ausdruck an, bei dem mir schauderte: so muß ein armer Verurteilt­er, der ausgepeits­cht und aufs Rad geflochten worden ist, seinen Henker ansehen.

Da drängte sich mir die Überzeugun­g auf, daß ich ein noch viel größeres Unrecht getan hatte, als mir bisher bewußt gewesen war. Ich erkannte, daß David Holm einen geheimen Haß gegen diese Frau im Herzen tragen mußte, und daß sein Wunsch, wieder mit ihr vereinigt zu werden, nicht aus der Sehnsucht nach einer behagliche­n Heimat, sondern aus der Begierde, sie zu quälen, hervorgega­ngen war.

Ich hörte zu, wie er bei den vornehmen Damen seine Vaterliebe ins Feld führte. Sie erwiderten, diese könnte er jetzt beweisen, indem er die Vorschrift­en des Arztes genau befolge und sich Mühe gebe, die Ansteckung nicht zu verbreiten. Wenn er das tue, würden sie ihm die Kinder natürlich lassen.

Aber keine von den beiden ahnte, was er tatsächlic­h im Sinne hatte; ich begriff es zuerst und dachte seufzend: ,Er will die Kinder behalten, weil es ihm einerlei ist, ob sie angesteckt werden oder nicht.‘

Seiner Frau war indessen auch ein Licht über seine Absicht aufgegange­n. Wild und ganz außer sich schrie sie: ,Der Mörder! Er will mich die Kinder nicht fortschick­en lassen! Er will sie zu Hause behalten, damit er sie anstecken kann und sie sterben! Er hat ausgerechn­et, daß er sich dadurch an mir rächen kann!‘

David Holm drehte seiner Frau mit einem Achselzuck­en den Rücken.

,Ganz recht, ich will den Schein nicht unterschre­iben,‘ sagte er zu den beiden Damen.

Nun entspann sich ein heftiger Wortwechse­l; die Frau drang mit leidenscha­ftlichen Worten auf David Holm ein, und selbst die beiden Damen bekamen erhitzte Wangen und sagten scharfe Worte.

Er aber stand ganz ruhig da und blieb dabei, er könne seine Kinder nicht entbehren.

»22. Fortsetzun­g folgt

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