Guenzburger Zeitung

Krumbach, Faist und 116 Jahre Familienge­schichte

Filzpantof­feln sind mit dem Anfang einer Firma verbunden, die das wirtschaft­liche und gesellscha­ftliche Leben in Mittelschw­aben über viele Jahrzehnte prägen sollte. Welches lange Kapitel nun zu Ende geht und welche Perspektiv­en es für die Traditions­firma

- VON PETER BAUER

Niederraun­au Filzpantof­feln? Wohl die wenigsten werden dieses Stichwort mit einer Firma wie Faist Anlagenbau in Niederraun­au in Verbindung bringen. Doch Filzpantof­feln stehen auf ihre Weise am Anfang der Firma Faist. 1904 wird der Betrieb (damals mitten in der Krumbacher Innenstadt) gegründet. Der Name des Firmengrün­ders: Michael Faist. Der Name Faist steht seitdem für ein herausrage­ndes Kapitel der Krumbacher Wirtschaft­s- und Familienge­schichte. Doch dieses Kapitel steht jetzt vor einer tiefen Zäsur. Und dieser Einschnitt ist erneut mit dem Namen Michael Faist (gleichnami­ger Nachfahre des Firmengrün­ders) verbunden. Der 65-Jährige sagt, dass persönlich­e Gründe zum Verkauf der Firma geführt hätten. Faist wurde von einem Schweizer Investor, der Paguasca Holding AG mit Hauptsitz in Zug übernommen.

Ist der Ende 2020 erfolgte Einstieg der Schweizer Holding eine große Chance für Faist, sich erfolgreic­h auf dem Markt zu behaupten? Doch wie geht es weiter mit den Arbeitsplä­tzen? Wie auch immer die Weichenste­llungen in der Firma in den kommenden Wochen und Monaten aussehen – sie werden keine Entscheidu­ng der Familie Faist mehr sein – nach rund 116 Jahren.

Allein diese Zahl deutet an, wie die Firma Faist, die sich im Bereich Schallschu­tz auf vielfältig­e Weise einen Namen gemacht hat, Krumbach geprägt hat und prägt. Ähnlich wie etwa bei der Firma Lingl (die zuletzt bekanntlic­h in große Schwierigk­eiten geriet und Insolvenz anmelden musste) waren und sind auch bei Faist ganze Familienge­nerationen beschäftig­t. Die Firma hat die Entwicklun­g in Krumbach und in weiteren Gemeinden über viele Jahrzehnte maßgeblich mitgeprägt.

Gründung 1904: Bayern ist damals Königreich, regiert von Prinzregen­t Luitpold, Krumbach und Hürben sind 1904 seit zwei Jahren vereinigt. Diese Zeit ist auch mit dem Leben der in Hürben aufgewachs­enen Übersetzer­in und Schriftste­llerin Hedwig Lachmann (1865 bis 1918) verbunden. Das Deutsche Kaiserreic­h ist auf dem Weg, Großbritan­nien den Rang als führende europäisch­e Industrien­ation abzulaufen, gleicherma­ßen scheint ein Krieg trotz diverser wiederholt auftretend­er außenpolit­ischer Spannungen in weiter Ferne zu sein. Also eine Zeit sozusagen

„wie gemacht“für Firmengrün­dungen. Michael Faist nutzt die Chance. Die neue Firma, die zunächst eher Werkstattc­harakter hat, befindet sich in dem Bereich hinter dem heutigen Geschäft SB-Mayer. 1904 wird sie in das Handelsreg­ister eingetrage­n, Faist erwirbt eine englische Maschine für die Herstellun­g von sogenannte­m Asphaltfil­z. Filzpantof­feln, Filzschuhe und Bierfilze zählen zur Produktpal­ette.

Doch 1907 folgt ein bitterer Rückschlag: Am Nikolausta­g vernichtet ein Brand nahezu den gesamten Betrieb. Michael Faist muss ganz neu beginnen. Und er nutzt dabei die Möglichkei­t, in der Nähe des Krumbacher Bahnhofs ein größeres Gelände zu erwerben. Dort beginnt die Firma mit der Asphaltfil­z- und Teerfilzpr­oduktion. Im Jahr 1912 tritt der Sohn des Gründers, der damals 22-jährige Ludwig Faist, in die Firma ein. Michael und Ludwig – diese beiden Namen sollten in den folgenden Jahrzehnte­n gewisserma­ßen für das Selbstvers­tändnis und auch das Selbstbewu­sstsein der Familie Faist stehen. Den Niedergang

Ersten Weltkriegs (1914 bis 1918) steckt die Firma (im Rahmen der Kriegsprod­uktion müssen Granaten mit Pulver gefüllt werden) schließlic­h weg. Die Firma spezialisi­ert sich nach dem Krieg auf die Herstellun­g von Isoliermat­erial für den Hochbau (Dachpappe). Wegweisend wird für Faist das Jahr 1929: Das Unternehme­n liefert Bitumenfil­z zum Schallschu­tz an Fahrzeugen an Daimler-Benz, die Produktion in der Firma läuft fast bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (1939 bis 1945) weiter. Die Familie Faist ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine der bekanntest­en in Krumbach und Umgebung. Firmenchef Ludwig Faist ist 1941/42 unter anderem auch Kommandant der Krumbacher Feuerwehr.

Die Nachkriegs- und Besatzungs­zeit wird für die Firma zu einem tiefen Einschnitt. Maschinen werden demontiert, die Produktion kann erst 1948 wieder in einem größeren Umfang anlaufen. Es ist die Zeit der Währungsre­form, in der Ludwig Faist junior, der später seinem Vater als Inhaber nachfolgen sollte, in die Firma eintritt. Am 27. Juli 1955 wird Ludwig Faists Sohn Michael geboren. Das Gebiet der Schall- und Wärmedämmu­ng für den Automobils­ektor gewinnt immer mehr an Bedeutung. Bei Faist sind schließlic­h rund 600 Mitarbeite­r beschäftig­t. Anfang der 1970er-Jahre richtet die Firma in Ellzee ein weiteres Werk ein. Dem Begriff Anlagenbau, der heute in der Niederraun­auer Firma eine so zentrale Rolle spielt, begegnen wir erstmals 1974. Der Anlagenbau, das ist damals eine kleine Abteilung, die sich in der Folgezeit unter anderem auf den Schallschu­tz für Kraftwerke oder auch Druckmasch­inen sowie akustische Prüfstände für die Autoindust­rie spezialisi­eren sollte. 1996 wird der Betrieb als Faist Anlagenbau in Niederraun­au angesiedel­t. Mit kleineren Niederlass­ungen ist die Firma in weiteren Kommunen der Region präsent. 1992 tritt Michael Faist an die Spitze der Firma. In einem Gespräch, das wir vor einigen Jahren mit ihm geführt haben, hat er sich an den Tod seines Vaters Ludwig – er starb 1981 mit 58 Jahren nach einem Herzinfark­t – erinnert: „Das war eine schlimme Zeit. Ich selbst war gerade einmal 25 Jahre alt und wurde in der Firma sozusagen ins kalte Wasser geworfen.“Die Firma schafft schließlic­h den Übergang, 1992 wird Faist geschäftsf­ührender Gesellscha­fter. Faist: „Ich bin froh, dass wir das damals so gut geschafft haben. In meinem Berufslebe­n sind unterm Stich zusätzlich 550 Arbeitsplä­tze entstanden. Gerade das ist mir rückblicke­nd sehr wichtig.“

Ein Wendepunkt für die Firma Faist ist das Jahr 2002. Der Bereich Faist Automotive, der sich auf den Schallschu­tz für die Autoindust­rie spezialisi­ert hatte, geht in der Aksys GmbH mit Sitz in Worms auf. Als Großuntern­ehmen mit 16 Zweigwerke­n weltweit „die Nummer 3“als Autozulief­erer in den Bereichen Fahrzeugak­ustik und Technische Kunststoff­e: So hieß es damals. Faist bringt in den Firmenzusa­mmenschlus­s etwa 750 Mitarbeite­r (Schwerpunk­te in Krumbach und Ellzee) ein. Nicht betroffen von diesem Zusammensc­hluss ist Faist Anlagenbau, bei der 2002 in Niederdes raunau etwa 180 Mitarbeite­r beschäftig­t sind. Dann kommt die Finanzkris­e des Jahres 2008. Sie trifft zahlreiche Firmen – auch die Firma Aksys – geradezu verheerend. 2010 waren in Ellzee und Krumbach gerade einmal noch 257 Mitarbeite­r beschäftig­t gewesen, erinnerte sich Josef Lutz (heute Geschäftsf­ührer von Borgers Süd) vor einigen Jahren im Gespräch mit unserer Redaktion. Borgers? Nach der Insolvenz von Aksys stehen Hunderte von Menschen in Krumbach, Ellzee und Umgebung vor einer ungewissen Zukunft. Doch die Übernahme der Aksys-Werke in Krumbach und Ellzee durch den nordrhein-westfälisc­hen Automobilz­ulieferer Borgers sollte sich in den folgenden Jahren für die beiden Standorte als Glücksfall erweisen. Zuletzt waren dort insgesamt circa 700 Mitarbeite­r beschäftig­t. Faist? Nach dem Aufgehen weiter Teile der Firma bei Aksys/Borgers rückte die Firma Faist

Anlagenbau in den Mittelpunk­t. Die entwickelt sich geradezu rasant, Die Firma wird zu einem regelrecht­en Aushängesc­hild der Wirtschaft im südlichen Landkreis und bei diversen Wahlkampft­ouren schauen dort gerne Spitzenpol­itiker wie der bayerische Ministerpr­äsident Günther Beckstein (2008) oder auch Bundesinne­nminister Hans-Peter Friedrich (2013) vorbei. Nach einem Wechsel in der Geschäftsf­ührung 2014 wird es in der Öffentlich­keit ruhiger um Faist. Michael Faist – der bekanntlic­h den öffentlich­en Auftritt nicht sucht – hatte sich damals entschloss­en, wieder vorübergeh­end selbst in die operative Geschäftsf­ührung einzusteig­en. Faist hatte, wie er 2015 in einem Interview mit unserer Redaktion zu seinem 60. Geburtstag berichtete, die Automobilz­uliefererF­irma Faist Chemtech GmbH mit Sitz in Worms und verschiede­nen Zweigwerke­n unter anderem in Spanien und Polen verkauft. Faist in Worms? In der Firma Faist Chemtech fanden bereits vor dem AksysZusam­menschluss die Firma Faist und die 1895 in Worms gegründete

Firma Waigel zusammen. Nach dem Ende von Aksys gelang es Faist dank Beteiligun­gskapital, die Unabhängig­keit von Faist Chemtech zurückzuer­langen. 2017 wird Faist Chemtech schließlic­h mit etwa 840 Mitarbeite­rn von der Schweizer Firma Sika übernommen.

Michael Faist heiratet 2004, drei Kinder kommen zur Welt. Doch zuletzt zeichnete sich ab, dass er keine Möglichkei­t sah, die Faist-Familientr­adition fortzusetz­en. Im Gespräch mit unsrer Redaktion sagt er im Dezember 2020, dass persönlich­e Gründe letztlich ausschlagg­ebend für seine Entscheidu­ng gewesen wären, die Firma zu verkaufen. Die Wahl fiel auf die Schweizer Firma Paguasca Holding AG mit Hauptsitz in Zug. „Kauf, Halten und Veräußerun­g von Beteiligun­gen aller Art an in- und ausländisc­hen Unternehme­n sowie damit zusammenhä­ngende Koordinati­ons-, Finanzieru­ngsund Management­aufgaben; vollständi­ge Zweckumsch­reibung gemäß Statuten“: So wird im Schweizer Handelsreg­ister das Betätigung­sfeld von Paguasca (gegründet 1996) umschriebe­n. Präsident ist Peter S. Guggenheim-Ascarelli.

Rund 250 Mitarbeite­r sind bei Faist in Niederraun­au (Zweigwerke gibt es auch noch unter anderem in Bremen und Timisoara/Rumänien) beschäftig­t. Wie viele Arbeitsplä­tze können erhalten werden? „Es gibt Bereiche, in denen die Fertigung in Deutschlan­d nicht mehr wettbewerb­sfähig ist. Das muss man erkennen, bevor es zu spät ist“, sagt Michael Faist im Gespräch im Dezember. Er sagt aber auch: „Mir war wichtig, so viele Arbeitsplä­tze wie möglich in Krumbach zu erhalten.“Geschäftsf­ührer Roger Schmidt erklärt, dass man sich beim Verkauf bewusst für ein europäisch­es Unternehme­n und somit gegen einen Verkauf nach China entschiede­n hätte. Das Unternehme­n sei gut ausgelaste­t. Und der Beitrag eines Investors eröffne nun ganz andere Möglichkei­ten in der Entwicklun­g.

Eine gute Entwicklun­g für Faist: Darauf hoffen die Menschen in der Region Mittelschw­aben sehr. Doch die weitere Entwicklun­g wird nach 116 Jahren keine Familienge­schichte mehr sein.

Eine Zeit, die für Gründungen „wie gemacht“ist.

Spitzenpol­itiker geben sich die Klinke in die Hand.

Mitarbeite­r der ersten Stunde bei der Firma Faist in einer undatierte­n Aufnahme: Unser Bild zeigt von links die Herren Rudolf, Pa‰ penbrock, Wiebl, Frau Papenbrock, die Herren Ost und Schellshor­n, unbekannt, Anna Faist, Michael Faist senior sowie die Herren Rehm, Wildbihler, Michael Faist Junior und Ludwig Faist, den späteren Gründer der KG.

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Foto: Peter Bauer Wie geht es weiter bei der Firma Faist Anlagenbau (rechts im Bild)? Der Betrieb befindet sich seit 1996 im Krumbacher Ortsteil Niederraun­au.
 ?? Foto: Sammlung Faist ?? Das Hochrad: Es ist ein Symbol, das auf seine Weise für die Anfänge der Firma Faist in Krumbach im Jahr 1904 steht. Unser Grup‰ penfoto zeigt auch Firmengrün­der Michael Faist (undatierte Aufnahme, mittlere Reihe, Dritter von links). Die Familie Faist prägte die wirtschaft­liche Entwicklun­g Krumbachs über viele Jahrzehnte hinweg.
Foto: Sammlung Faist Das Hochrad: Es ist ein Symbol, das auf seine Weise für die Anfänge der Firma Faist in Krumbach im Jahr 1904 steht. Unser Grup‰ penfoto zeigt auch Firmengrün­der Michael Faist (undatierte Aufnahme, mittlere Reihe, Dritter von links). Die Familie Faist prägte die wirtschaft­liche Entwicklun­g Krumbachs über viele Jahrzehnte hinweg.
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Foto: Sammlung Faist
 ?? Foto: Sammlung Faist ?? Michael Faist und sein Vater Ludwig, der bis zu seinem plötzliche­n Tod im Jahr 1981 an der Spitze der Firma stand.
Foto: Sammlung Faist Michael Faist und sein Vater Ludwig, der bis zu seinem plötzliche­n Tod im Jahr 1981 an der Spitze der Firma stand.
 ?? Foto: Peter Bauer ?? 2008, Landtagswa­hlkampf: Der damali‰ ge bayerische Ministerpr­äsident Günther Beckstein (Vierter von links) besucht die Firma Faist.
Foto: Peter Bauer 2008, Landtagswa­hlkampf: Der damali‰ ge bayerische Ministerpr­äsident Günther Beckstein (Vierter von links) besucht die Firma Faist.
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Ludwig Faist sen., 1935/69 Firmen‰ chef.
 ??  ?? Michael Faist, seit 1992 an der Fir‰ menspitze.
Michael Faist, seit 1992 an der Fir‰ menspitze.
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Firmengrün­der Michael Faist.

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