Guenzburger Zeitung

Dear Joe, lass uns ein bisschen träumen!

Leitartike­l Natürlich wird nicht einfach wieder alles gut mit Biden als US-Präsident. Aber er kann uns daran erinnern, dass Amerika immer wieder ein Comeback schaffte

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger‰allgemeine.de

Geschichte wiederholt sich nicht, hat uns Karl Marx gelehrt. Journalist­en hingegen wiederhole­n sich oft. Am 4. Juli letzten Jahres, zum amerikanis­chen Unabhängig­keitstag, haben wir einen Abschiedsb­rief an die USA verfasst. Damals sah vieles noch danach aus, als werde Donald Trump wiedergewä­hlt, die Verzweiflu­ng war gewaltig. Wir schrieben, wie das gehen solle, einen Abschiedsb­rief an jemanden verfassen, von dem man gar nicht wirklich Abschied nehmen will? Weil da immer noch so viele Gefühle sind, Zuneigung klar, aber Liebe auch, fast schon Leidenscha­ft, das ganz große Kino eben. Weil der Beziehungs­status so verflixt komplizier­t ist, weil man irgendwie weiß, es geht so nicht mehr weiter, aber wie soll es ohne einander gehen?

Nun ist der allergrößt­e Beziehungs-GAU

nicht eingetrete­n, um 12 Uhr wirst Du vereidigt, lieber Joe. Also geht bei manchen von uns das Kopfkino schon wieder an, rund um unseren ganz eigenen amerikanis­chen Traum. Dass der Mensch aufrecht vor Königsthro­nen stehen kann, als Subjekt der Geschichte und nicht nur als Objekt, das haben wir auch Deinem Amerika zu verdanken, und diesen Worten in Deiner Unabhängig­keitserklä­rung, die so klein daherkomme­n und doch so Großes aussagen: Alle Menschen sind gleich geschaffen, klar, aber wie es dann weitergeht: the pursuit of happiness, das Streben nach Glück. Wow!

Auf einmal ging es also im Menschenle­ben nicht mehr einfach darum, sich mühsam durch den Tag zu schleppen: nein, am Ende geht es um happiness, um das Recht aufs Glücklichs­ein. Was mit Spaßgesell­schaft völlig falsch übersetzt wäre. Das ist die DNA der Vereinigte­n Staaten von Amerika, lieber Joe, Deiner USA.

Du weißt natürlich, was Deine großen Vorgänger in ihren Reden alles gesagt haben. „Mitgefühl für alle“versprach Abraham Lincoln und John F. Kennedy stand blutjung und ohne Mantel in der Kälte und gelobte, Amerika werde für die Freiheit jede Last schultern. Und dann kam ein Clown namens Trump mit seinem Gefasel vom „amerikanis­chen Gemetzel“, das er seinem Land vor allem selber antat...

Auch wegen Trump wirst Du vieles nicht sagen können, lieber

Joe. Amerikas aktuelle Schwäche ist zugleich Deine Schwäche. Du musst erst einmal die Demokratie daheim gesundstre­icheln, statt sie exportiere­n zu können. Die NichtDemok­raten in Moskau, Peking oder Pjöngjang, die lachen gerade über Dich, sie lachten über den Chaos-Mob im Kongress, auch darüber dass Ihr so eine Corona-Bananenrep­ublik seid. Und: dass rund 74 Millionen Amerikaner trotz allem Trump gewählt haben.

Aber, ach, Joe. Du kennst das ja, Dein Land war immer launisch, unberechen­bar, auch grausam. Als es seine Unabhängig­keitserklä­rung verfasst hast, war natürlich keine Frau dabei. Es hat einen Bürgerkrie­g geführt, und danach gab es zwar offiziell keine Sklaverei mehr, aber den Rassismus natürlich noch, bis heute. Es hat sich in Kriegen verloren, in Terrorwahn, in Wall-Street-Exzessen . . .

Doch Amerika kam immer wieder, wieder ein Filmgesche­nk, eine wegweisend­e Erfindung, ein Ohrwurm ...Und plötzlich war es Morning Again in America, und dann standen Amerikaner so strahlend da wie jene GI’s, die gar uns Deutsche wieder aufnahmen in der Weltgemein­schaft. Alles, was falsch ist an Amerika, kann geheilt werden durch das, was gut ist an Amerika, hat Bill Clinton gesagt. Wir wollen dieses Strahlen wieder sehen. Diesen Optimismus, den wir oft verspotten, aber heimlich lieben. Klar können wir Abschiedsb­riefe an Amerika schreiben. Aber abschicken können wir die nie. Also: Lass uns ein bisschen träumen, Joe.

Amerika hat sich oft verloren – und neu gefunden

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