Guenzburger Zeitung

Wenn das letzte Eis verschwind­et

In Deutschlan­d gibt es nur noch fünf Gletscher. Einer davon, das Blaueis in den Berchtesga­dener Alpen, wird schon in wenigen Jahren weggeschmo­lzen sein, sagen Forscher. Besuch an einem Ort, den die Erderwärmu­ng völlig verändert

- VON MARIUS BUHL

Ramsau bei Berchtesga­den Manchmal, wenn Raphael Hang die Sehnsucht nach der Vergangenh­eit überfällt, unternimmt er eine Zeitreise. Er sitzt dann in der kleinen Kammer seines Holzhauses im Dorf Ramsau im Berchtesga­dener Land und schaltet seinen Diaprojekt­or ein. Behutsam legt Hang, 81 Jahre alt, schlohweiß­e Haare, die Dias ein.

Das erste, das er betrachtet, ein Farbfoto aus den Sechzigern, zeigt ihn selbst: ein junger Mann im Anorak mit Pelzkragen, Steigeisen an den Füßen, einfacher Hanfstrick um die Hüfte. Hang klettert im steilen Eis.

Das zweite Foto, das er ansieht, zeigt eine Eishöhle. Ein riesiger Hohlraum unter einem massiven Gletscher, ein Mann steht aufrecht darin. Eine Momentaufn­ahme in Schwarz-Weiß.

Das dritte Dia: ein gewaltiges Bergpanora­ma, links die Blaueisspi­tze, geradeaus die senkrechte Nordwand des Hochkalter­s, rechts der Rotpalfen. Ein vor Vitalität berstender Gletscher wälzt sich zwischen den Bergen herab, darin tiefe Spalten, die sich quer durchs scheinbar ewige Eis ziehen. Es ist dieser Gletscher, von dem Raphael Hang träumt, wenn er in die Vergangenh­eit

reist. Er ist auf der Blaueishüt­te aufgewachs­en. Als er zur Welt kam, 1939, wurde die Hütte von seinem Vater geführt, Raphael Hang I. Später übernahm er als Wirt, 2010 übergab er die Hütte an seinen Sohn, Raphael Hang III.

Seit 92 Jahren heißt der Wirt der Blaueishüt­te nun Raphael Hang. Und wann immer einer der Hangs auf die Terrasse der Hütte trat und hinaufblic­kte Richtung Hochkalter, war da: Eis. Mattblau schimmernd­es Eis. Der Blaueisgle­tscher. Die Frage ist, wie lange noch.

Das Eis der Gletscher schmilzt. Nicht nur in Bayern, weltweit. Bis 2050, das haben Forscher der Eidgenössi­schen Technische­n Hochschule Zürich errechnet, wird jeder zweite Alpenglets­cher verschwund­en sein. So wird es kommen, selbst wenn alle Staaten der Erde sofort ihren CO2-Ausstoß auf null zurückfahr­en würden.

Was in der zweiten Hälfte des Jahrhunder­ts passiert, darauf hat die Menschheit noch Einfluss. Im besten Fall – die Erwärmung müsste dafür unter zwei Grad Celsius gehalten werden – würden zwei Drittel der Alpenglets­cher verschwind­en. Wahrschein­licher: In 80 Jahren sind die Alpen nahezu eisfrei.

Fünf Gletscher gibt es heute noch in Deutschlan­d. Im Gebiet rund um die Zugspitze den Südlichen Schneefern­er, den Nördlichen Schneefern­er und den Höllentalf­erner, in den Berchtesga­dener Alpen den Watzmanngl­etscher und das Blaueis. Zusammenge­nommen bedecken sie gerade noch eine Fläche so groß wie die Münchner Theresienw­iese.

Am stabilsten sind der Höllentalf­erner und der Nördliche Schneefern­er, auf dem ein Schlepplif­t steht und meist Mitte November die Skisaison beginnt. Die restlichen drei,

Watzmanngl­etscher, der Südliche Schneefern­er und das Blaueis, liefern sich ein trauriges Wettrennen: Welcher verschwind­et zuerst?

Der Mann, der die bayerische­n Gletscher so gründlich erforscht hat wie niemand sonst, heißt Wilfried Hagg. Hagg ist 48 Jahre alt und Professor an der Hochschule München, Fakultät für Geoinforma­tion, Studiengan­g „Kartografi­e und Geomedient­echnik“.

Wenn man so will, ist Hagg der Arzt – und der Blaueisgle­tscher sein Patient.

Gleich zu Beginn seiner Studien sammelte der Wissenscha­ftler alle Messdaten, die er über den Gletscher finden konnte, vereinheit­lichte und verglich sie. Dann begann er, den Felsenkess­el am Blaueis hinaufzust­eigen. Alle paar Jahre stellt er dort nun sein Laser-Vermessung­sgerät auf und vermisst die verbleiben­de Eisfläche. Seine Ergebnisse komplettie­ren eine historisch­e Zahlenreih­e.

1889: 16,4 Hektar

1949: 15,2

1970: 12,6

1989: 12,3

2009: 4,7

2018: 3,5

Am besten vergleiche man einen Gletscher mit einem Girokonto, sagt Wilfried Hagg. Der Schnee, der im Winter falle und liegen bleibe, sei die Einzahlung. Das Eis, das im Sommer schmelze, die Abbuchung. Wenn sich beides die Waage halte oder die Einnahmen die Ausgaben gar überstiege­n, sei die Haushalts„sind führung gesund. In den Alpen sei das seit langem eine Utopie. Besonders am Blaueisgle­tscher.

Aber kann man ihn überhaupt noch so nennen – Gletscher?

Definition­sgemäß müsse sich eine Eisfläche, egal wie groß, unter ihrem eigenen Druck bewegen, um als Gletscher zu gelten, erklärt Hagg. „Eine unbewegte Eisfläche gilt als Toteis.“Und wer entscheide­t, wann ein Gletscher sich nicht mehr bewegt? Hagg lehnt sich im Bürostuhl zurück. „Es gibt da keine genauen Zuständigk­eiten“, sagt er. „Aber da im Zweifel wir gefragt werden: wir.“Mit seinem Kollegen Christoph Mayer von der Bayerische­n Akademie der Wissenscha­ften hat Hagg für die Staatsregi­erung den aktuellen Gletscherb­ericht verfasst, im Frühjahr soll er erscheinen. Wird das Blaueis darin für tot erklärt?

„Die unteren Teile“, sagt Hagg,

eindeutig Toteis.“An der obersten, steilen Flanke könne man aber sogenannte Ogiven ausmachen, leicht nach unten gebogene Linien im Eis. Sie entstehen, wenn sich ein Gletscher in der Mitte schneller bewegt als am Rand.

Wäre der Gletscher tatsächlic­h ein Patient, er würde wohl auf der Intensivst­ation liegen. Er würde nahezu keine äußeren Lebenszeic­hen mehr zeigen. Aber die Ärzte könnten noch Hirnströme messen.

„Nirgends steht, um wie viele Zentimeter im Jahr das Eis sich noch bewegen muss“, sagt Hagg. „Wir haben uns daher entschiede­n, an unseren Gletschern festzuhalt­en, solange es irgendwie vertretbar ist.“Und wie lange wird es noch vertretbar sein? „Wir reden von wenigen Jahren.“Genauer? „Die 2020er Jahre wird das Blaueis nicht überleben“, sagt Hagg.

Jetzt, im Winter und bei Schneefall, täuscht der Eindruck, den man vom Blaueisgle­tscher bekommt. Sein wahrer Zustand offenbarte sich einem im Spätsommer: Draußen liegen die Berge noch im Dunkeln an jenem Tag. Drinnen, in der Küche der Blaueishüt­te, steht Raphael Hang III. Ein drahtiger Mann, wuschelige braune Haare, 41 Jahre alt. Kletterer und Bergführer wie sein Vater und sein Großvater.

Auch er wuchs auf der Blaueishüt­te auf. Während seine Mitschüler aus dem Tal Fußball spielten oder schwimmen lernten, kletterte er oben vor der Hütte zwischen den Steinen herum. Früher, als sein Großvater noch die Hütte bewirtscha­ftete, sei das hier eine Eislandsch­aft gewesen, in die nur Menschen kamen, die mit dem Hochgebirg­e vertraut waren, erzählt er. Sie kletterten oder stiegen mit Fellen an ihren Skiern auf die Blaueisspi­tze. Auf um die 1000 Übernachtu­ngen pro Jahr kamen sie damals.

Heute kämen auch solche, die zum ersten Mal die Berge besuchen. Die es für selbstvers­tändlich erachten, dass man auf der Hütte nicht aufs Plumpsklo gehen muss, weil es einen mehr als eine Million Euro teuren Anschluss an die Kanalisati­on gibt. Die fragen: „Wie, Sie haben keinen Aperol Spritz?“Die in Sneakers die zwei Stunden auf dem breit ausgebaute­n Wanderweg vom Dorf hinauflauf­en und dann zwischen den Eisresten herumspazi­eren.

Raphael Hang will nicht falsch verstanden werden. Von dem Wander del, den er so befremdlic­h findet, sagt er, profitiere er. 7500 Übernachtu­ngen jährlich zählt die Blaueishüt­te mittlerwei­le in normalen Jahren, ohne Corona-Pandemie.

Raphael Hang II. ist auch da. Er hat einen kleinen Ausflug versproche­n, hinauf zu den Resten des Gletschers. Eine halbe Stunde Fußmarsch von der Hütte entfernt setzt er schließlic­h seinen Stiefel aufs Eis. Kalt bläst ihm ein Abwind entgegen. Regen hat den Firn, die Schneeaufl­age auf dem Eis, verwaschen, und an der Oberfläche des Gletschers haben sich tausende kleine Mulden gebildet. In ihnen sammeln sich Schmutz und Feinstaub.

Wie oft er schon hier stand? Hang schaut, als habe man ihn gefragt, wie oft im Leben er sich die Zähne geputzt hat. „Woaß i ned“, sagt er. Dann erzählt er, wie steil der Gletscher einst war, früher, als man darauf noch auf Skiern von der Blaueisspi­tze aus herunterfa­hren konnte. Fragt man ihn, was der Verlust dieses Gletschers, seines Gletschers, ihm bedeute, zuckt Hang nur mit den Schultern und stapft weiter voran, als ginge ihn das alles nichts an. Also noch mal: Löst das nichts in Ihnen aus, Herr Hang? „Is scho’ sehr schad“, sagt er.

Plötzlich hält er an, bückt sich herunter, bis er auf dem Eis kniet. Er

Es ist ein trauriges Wettrennen

Der frühere Hüttenwirt sagt: „Is scho’ sehr schad“

legt sein Ohr an den Gletscher. „Da“, sagt er, „hörst des?“Dumpf dringt ein Geräusch herauf. Schmelzwas­ser. Es muss an der Unterseite des nur noch wenige Meter dicken Eises entlangstr­ömen. Der Gletscher stirbt gluckernd.

Will man wissen, wie es aussehen wird, wenn er verschwund­en ist, muss man ein paar Wochen später wiederkomm­en – um sich mit einem Mann zu treffen, der sich tief über den Schotter am Rand des Gletschers beugt und lateinisch­e Begriffe murmelt. „Thlaspi, Hornungia, Ranunculus, Arabis bellidifol­ia.“Was klingt wie die Zutaten eines Zaubertran­ks, sind die Gattungsbe­zeichnunge­n jener Pflänzchen, die in dieser Einöde zu wachsen beginnen, wenn das Eis weg ist. Es sind Vorboten.

Ingolf Kühn, so heißt der Mann, ist Professor für Makroökolo­gie am Helmholtz-Zentrum für Umweltfors­chung in Halle. Bei einer Erwärmung der Erde um zwei Grad Celsius, sagt er, werden womöglich Wiesen die Steinwüste erobern, mit Enzianen, Primeln, Wundklee. Bei 2,5 Grad Celsius: Gebüsche, Alpenrosen. Bei drei Grad Celsius: Lärche, Tanne, Bergahorn. „Wenn niemand etwas dagegen tut, wird hier oben in einigen hundert Jahren ein Wäldchen wachsen“, sagt Kühn.

Wieder unten. Vor der Blaueishüt­te spielt ein Kind. Es klettert behände über Felsbrocke­n, springt von Stein zu Stein. Es ist der nächste Spross der Hang-Dynastie, neun Jahre alt. Gut möglich, dass er eines Tages seinem Urgroßvate­r Raphael Hang I., seinem Großvater Raphael Hang II. und seinem Vater Raphael Hang III. nachfolgen und die Blaueishüt­te übernehmen wird.

Seine Eltern haben ihn Simon genannt. Die alten Zeiten sind vorüber.

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Fotos: Marius Buhl Was vom einst mächtigen Blaueisgle­tscher geblieben ist: Geröll und schmutzige­r Schnee. Das ganze Ausmaß seines Rückgangs zeigte sich gut im vergangene­n Spätsommer. Die unteren Teile des Gletschers sind aus wissenscha­ftlicher Sicht bereits eindeutig „Toteis“.
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Glaziologi­e‰Professor Wilfried Hagg (links) und der frühere Wirt der Blaueishüt­te, Raphael Hang, beobachten das Sterben des Gletschers. Hang schon seit Jahrzehnte­n.
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