Guenzburger Zeitung

Das Schweigen ist gebrochen

Ein Buch der französisc­hen Juristin Camille Kouchner, Tochter des ehemaligen Außenminis­ters, löst eine Debatte um sexuellen Missbrauch aus. Im Zentrum: eine Machtelite

- VON BIRGIT HOLZER

Paris „Ich war fünf Jahre alt. An einem Abend hat dieser Bruder meiner Mutter meine Arglosigke­it erschütter­t und den Verlauf meines restlichen Lebens verdunkelt. Innerhalb von einer Sekunde war ich 100 Jahre alt.“Die Frau, die diese Zeilen auf Twitter schreibt, nennt sich „Marie Chevenance“– nach einem gleichlaut­enden Lied der schon gestorbene­n französisc­hen Sängerin Barbara, die selbst enthüllt hatte, dass sie als Kind von ihrem Vater vergewalti­gt wurde.

Sie sei „nur eine unter vielen“, schreibt eine andere Frau ebenfalls auf Twitter unter dem Namen „Nur eine von vielen“. „Ich war fünf, sechs, sieben, ich erinnere mich nicht mehr. Er vier Jahre älter als ich. Wenn ich Angst hatte, schlief ich bei ihm. Er ,beschützte‘ mich. Normal! Er war mein großer Bruder.“Und Straßenkün­stler Christian Guémy berichtet: Seine Mutter sei im Alter von zwölf Jahren von jemandem aus dem familiären Umkreis vergewalti­gt worden und habe in der Folge ihn zur Welt gebracht. Mit 18 Jahren habe sie sich das Leben genommen. Da war er fünf. „In meiner Familie spricht niemand von ihr, niemals, es ist verboten. Niemand legt Blumen auf ihr Grab. Meine Wut wirkte lange wie ein Gift.“

Es sind erschütter­nde Zeugnisse, die sich im Internet finden – und es werden immer mehr, seit sich am Wochenende 180 französisc­he Frauenrech­tlerinnen

dazu verabredet hatten, gleichzeit­ig ihr Schweigen zu brechen. Unter dem Schlagwort #metooInces­te veröffentl­ichen sie Missbrauch­s- und Inzest-Erfahrunge­n, die sie oder Angehörige ihrer Familie machen mussten.

Die Resonanz ist enorm. Selbst die französisc­he First Lady Brigitte Macron äußerte sich dazu bereits mit den Worten: Diese Taten „müssen unbedingt bekannt gemacht und dürfen nicht mehr totgeschwi­egen werden“.

Frauenrech­tlerin Caroline De Haas sagt: „Wir sind immer überrascht, wenn eine Kampagne auf so viel Realität trifft, aber gleichzeit­ig wissen wir, dass Frankreich ein Problem mit Inzest hat.“Tatsächlic­h legen Studien nahe, dass schätzungs­weise zehn Prozent aller Kinder in Frankreich – etwas mehr Mädchen als Jungen – Opfer von sexuellem Missbrauch im Familienkr­eis werden. Sie stammen aus allen sozialen Schichten.

Aufgebrach­t hat die Debatte die 45-jährige Juristin Camille Kouchner mit ihrem kürzlich veröffentl­ichten Buch „La familia grande“. Die Tochter von Bernard Kouchner, einst französisc­her Außenminis­ter und Mitbegründ­er der Hilfsorgan­isation „Ärzte ohne Grenzen“, beschreibt darin, wie sich in ihrer Jugend ihr Stiefvater, der einflussre­iche Verfassung­srechtler und Politologe Olivier Duhamel, über mindestens zwei Jahre hinweg an ihrem Zwillingsb­ruder verging.

Es begann ihr zufolge in Duhamels Ferienhaus in Südfrankre­ich, wohin er jedes Jahr etliche Freunde aus der linksintel­lektuellen Elite des Landes lud. Abends schlich er sich dann ins Zimmer des Jungen und sagte zu ihm: „Jeder macht das.“

Victor, wie die Autorin ihren

Bruder im Buch nennt, habe ihr noch damals davon erzählt, sie aber zum Schweigen verpflicht­et. Sie brach es erst viele Jahre später. Doch die Mutter, die 2017 gestorbene Feministin und Politologi­n Evelyne Pisier, ergriff nicht etwa Partei für ihre Kinder, sondern für ihren zweiten Ehemann. Auch wurden Freunde aus dem Umkreis der Familie über Duhamels Machenscha­ften informiert. Nur wenige wandten sich von ihm ab.

Jetzt holt die Vergangenh­eit den 70-Jährigen, Sohn eines ehemaligen Ministers und zeitweise Europaabge­ordneter der Sozialiste­n, aber ein. Inzwischen ist er unter anderem vom Vorsitz der Stiftung für die Finanzieru­ng der Elite-Uni Sciences Po sowie des Clubs „Le Siècle“, dem die Pariser Machtelite aus Politik, Wirtschaft und Medien angehört, zurückgetr­eten. Mit Duhamels Radiound Fernsehauf­tritten dürfte es ebenfalls vorbei sein. Eine Anklage muss er aufgrund der Verjährung seiner Taten wohl nicht fürchten.

Das Buch von Camille Kouchner sei „eine Türe, die sich öffnet, um das Schweigen zu brechen“, schrieb „Marie Chevenance“auf Twitter.

Auf Twitter finden sich erschütter­nde Berichte

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