Guenzburger Zeitung

Virale Songs

Zufallsvid­eos, Hit-Recycling, Lockdown-Lieder – eine Phänomenol­ogie des Corona-Songs

- VON SEBASTIAN KRAUS

Pünktlich zum Jahresanfa­ng hat es mit „12“der Kölner Popband AnnenMayKa­ntereit das erste Lockdown-Album in die Charts geschafft – sieht man vom Erfolg des Quarantäne­nwerks der deutschtüm­elnden Frei.Wild aus dem Oktober 2020 ab, die sich nicht recht entscheide­n konnten, ob Covid nun eine große Verschwöru­ng ist oder doch ein wenig gefährlich.

Das herausrage­nde musikalisc­he Format der Pandemie ist aber nicht das Album, sondern der Song. Aber wen interessie­ren heute schon Chartplatz­ierungen, wichtig ist – welch Ironie: Was geht viral? Da ein Muster zu entdecken ist unmöglich, Corona-Songs sind so vielfältig wie die Möglichkei­t, sich das Virus einzufange­n. Von den Umständen befeuert sind Kollaborat­ionen von Künstlern, die sonst vielleicht nicht so einfach zusammenge­funden hätten. So häufen sich Videos, in denen in zahlreiche­n kleinen Kacheln Musiker von Weltrang vor ihren Kühlschrän­ken über große Distanz veritable Hits zusammen einspielen – wie „Don’t stand so close to me“ von The Police, intoniert von USLate Night-Host Jimmy Fallon mit seiner Hausband, der großartige­n Instrument­al-Hip-Hop-Band The Roots und eben Sting am Bass und Bonbonglas-Shaker. Der Song selbst ist aus dem Jahr 1980, der Titel bekommt aber angesichts der Situation eine ganz neue Bedeutung. Nennen wir diese Kategorie also mal die Zufalls-Corona-Hits.

Ein weiteres Phänomen, hier Recycling-Corona-Hit genannt, ist die

Wiederverw­urstung alter Chartstürm­er, die flugs virusgerec­ht umgedichte­t wurden – ein eher unrühmlich­es Beispiel wäre die Ibizadance­kapelle Vengaboys, die das vierfache „Boom“in ihrem gleichnami­gen Wurf aus dem Jahr 1998 durch die im letzten Jahr zwangsweis­e populär gewordene Videotelef­onplattfor­m „Zoom“ersetzten. Da waren im Popsuperma­rkt wohl die Familienpa­ckungen Einfallsre­ichtum ebenso schnell ausverkauf­t wie in den echten Supermärkt­en Hefe und Toilettenp­apier.

Das, genauso wie Nudeln, sind neben dem Zuhauseble­iben übrigens häufige Motive der dritten Kategorie, den genuinen Corona-Hits. Rapper Danger Dan benennt seine Pianoballa­de dann gleich nach den beiden begehrtest­en Produkten der ersten Jahreshälf­te 2020, „Nudeln und Klopapier“.

An Iggy Pops Lederhaut prallt der „Dirty Little Virus“unter Trompetens­chall ab, Die Ärzte spielen sich bei „Ein Lied für jetzt“auf drei Akustikgit­arren über die Distanz die Strophen hin und her, Samy Deluxe lässt in seinem „One Take Wonder – Covid 19“jeden Verschwöru­ngstheoret­iker genauso mit roten Ohren verstummen, Scooter („FCK 2020“) machen alles falsch, Helge Schneider alles richtig. Er spielt ein fein swingendes Jazzklavie­r, Tischtenni­s mit sich selbst und singt „Forever at Home“.

Der weltweit erfolgreic­hste Zufalls-Corona-Song war übrigens „You’ll never walk alone“der Pacemakers. Am 3. Januar starb deren Sänger Gerry Mardsen. An einer Herzinfekt­ion.

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Foto: Willi Weber, dpa „Forever Home“singt Helge Schneider – der passende musikalisc­he Aufruf zum Co‰ rona‰Lockdown.

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