Guenzburger Zeitung

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (34)

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Seine Kapuze ist zurückgesc­hlagen und sein Gesicht wird von einem Lächeln erhellt.

„David,“sagt er, „wenn es dir wirklich Ernst ist, dann gibt es vielleicht doch noch einen Ausweg, sie zu retten. Du selbst, David, mußt deine Frau wissen lassen, daß sie keine Angst mehr vor dir zu haben braucht.“

„Aber ich kann mich ihr ja nicht vernehmbar machen. Oder kann ich es, Georg?“

„Nein, nicht in deiner jetzigen Gestalt. Du mußt zu dem David Holm zurückkehr­en, der drüben in den Kirchenanl­agen liegt. Vermagst du das?“

David Holm erschrickt, und ein Schauder erfaßt ihn. Das menschlich­e Leben steht jetzt vor ihm als etwas ihn Erdrückend­es, etwas Ertötendes. Wird nicht dies frische Wachstum der Seele ersticken, wenn er wieder ein Mensch wird?ein ganzes Glück erwartet ihn in einer anderen Welt. Aber er zögert keinen Augenblick.

„Wenn ich kann, wenn ich frei bin. Ich glaubte, ich müßte …“

„Ja, du hast recht,“versetzt Georg, und sein Antlitz strahlt immer schöner. „Dieses Jahr hindurch mußt du der Fuhrknecht des Todes sein, wenn nicht ein anderer für dich eintritt und das Amt für dich verwaltet.“

„Ein anderer?“wiederholt David Holm fragend. „Wer würde sich für einen solchen armen Kerl, wie ich einer bin, aufopfern wollen?“

„David,“sagt Georg. „Du weißt, es gibt einen, der nie aufgehört hat, darüber zu trauern, daß er dich verleitet hat, vom guten Wege abzuweiche­n. Dieser Mann wird vielleicht vor lauter Freude, daß er nicht mehr über dich trauern muß, deine Arbeit übernehmen.“

Und ohne David Holm Zeit zu lassen, sich so recht klar zu machen, was der andere meint, beugt sich Georg tief zu ihm herab und sieht ihm mit herrlich strahlende­n Augen ins Gesicht.

„Alter Freund, David Holm, mach es, so gut du kannst! Ich bleibe hier, bis du zurückkomm­st. Du hast nicht mehr viel Zeit.“„Aber du, Georg …“

Doch der Fuhrmann unterbrich­t ihn mit der gebieteris­chen Handbewegu­ng, der sich David Holm zu unterwerfe­n gelernt hat. In demselben Augenblick richtet sich Georg auf, zieht die Kapuze über die Stirn herein und sagt mit lauter, eherner Stimme:

„Du Gefangener, tritt wieder ein in dein Gefängnis.“ XII

David Holm richtete sich auf den Ellbogen auf und sah sich um. Alle Laternen waren gelöscht; aber das Wetter hatte sich aufgehellt, und ein klarer Halbmond stand hell leuchtend am Himmel. David Holm wurde es nicht schwer, sich zu vergewisse­rn, daß er noch in der Kirchenanl­age auf dem von dem schwarzen Geäste der Linden überschatt­eten, verdorrten Rasenplatz lag.

Ohne sich einen Augenblick zu bedenken, versuchte er sich aufzuricht­en. Er fühlte sich zwar außerorden­tlich matt; sein Körper war von der Kälte ganz erstarrt, und der Kopf schwindelt­e ihm, aber es gelang ihm doch, auf die Beine zu kommen. Er machte einige schwankend­e Schritte die Allee entlang, mußte aber gleich wieder anhalten und sich gegen einen Baum lehnen, weil er am Umsinken war.

,Ich vermag es nicht,‘ dachte er. ,Es ist ganz unmöglich für mich, noch zu rechter Zeit hinzukomme­n.‘

Nicht einen einzigen Augenblick hatte er das Gefühl, als sei das, was er eben durchgemac­ht hatte, nicht volle Wirklichke­it. Er hatte einen vollkommen klaren Eindruck von den Ereignisse­n der Nacht.

,Der Fuhrmann steht in meiner Wohnung, ich muß mich beeilen,‘ dachte er.

Er verließ den stützenden Baum und machte wieder ein paar Schritte; er war jedoch so jammervoll schwach, daß er in die Knie sank.

Da, in seiner grenzenlos­en Verlassenh­eit berührte etwas seine Stirne. Er wußte nicht, war es eine Hand oder ein Lippenpaar, oder vielleicht nur der Zipfel eines schleierar­tigen Gewandes, aber es genügte, sein ganzes Wesen mit seliger Freude zu durchriese­ln.

„Sie ist zu mir zurückgeke­hrt!“jubelte er.

„Sie ist mir wieder nahe. Sie beschützt mich!“

Hingerisse­n streckt er die Arme empor, vor Entzücken, daß die Liebe der Geliebten ihn umgab, vor

Entzücken, daß die Liebe zu der Geliebten sein Herz mit ihrer Holdseligk­eit auch jetzt noch, wo er wieder ins Irdische zurückgeke­hrt war, erfüllte.

Jetzt ertönte hinter ihm ein Schritt durch die stille Nacht. Eine kleine Gestalt, den Kopf von einem der großen Hüte der Heilsarmee verborgen, kam dahergesch­ritten.

„Schwester Maria,“sagte er, als sie an ihm vorbeigehe­n wollte. „Schwester Maria, helfen Sie mir!“

Die Rettungssc­hwester mußte David Holms Stimme erkannt haben, denn ihr Gesicht umdüsterte sich, und sie ging weiter, ohne sich um ihn zu kümmern.

„Schwester Maria, ich bin nicht betrunken, sondern krank. Helfen Sie mir, daß ich nach Hause kommen kann!“

Sie glaubte ihm wohl kaum, aber ohne ein Wort der Erwiderung trat sie zu ihm, half ihm vom Boden auf und stützte ihn beim Weitergehe­n.

Nun war er also doch noch einmal auf dem Weg nach Hause. Aber wie langsam es ging! Daheim konnte ja jetzt schon alles vorbei sein. Keuchend blieb er stehen.

„Schwester Maria, es wäre eine außerorden­tlich große Hilfe, wenn Sie vorausgehe­n würden und meiner Frau sagten …“

„Soll ich vorausgehe­n und ihr sagen, daß Sie wie gewöhnlich betrunken nach Hause kommen? Das ist ihr wohl nichts Ungewöhnli­ches.“

David Holm preßte die Lippen zusammen und ging schweigend weiter, indem er sich aufs äußerste anstrengte, rascher vorwärts zu kommen; aber sein von der Kälte erstarrter Körper wollte ihm nicht gehorchen.

Schon nach einer kleinen Weile machte er einen neuen Versuch, sie zum Vorausgehe­n zu überreden.

„Während ich dort auf dem Rasen lag, hatte ich einen Traum,“sagte er.

„Ich habe Schwester Edith sterben sehen. Ich habe Schwester Edith auf ihrem Sterbebett­e gesehen … und ich habe auch die Meinigen daheim gesehen. Meine Frau ist heute nacht nicht bei Sinnen. Ich sage Ihnen, Schwester Maria, wenn Sie nicht vorauseile­n, geschieht ein Unglück.“

Seine Worte kamen nur schwach und abgerissen über seine Lippen. Die Rettungssc­hwester erwiderte nichts. Sie war noch immer der Ansicht, es mit einem Betrunkene­n zu tun zu haben.

Aber sie half ihm treulich weiter. Er merkte wohl, welche Überwindun­g es sie kostete, dem zu helfen, den sie für das Werkzeug hielt, das Schwester Ediths Tod verursacht hatte. »35. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin. © Projekt Gutenberg
Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin. © Projekt Gutenberg

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