Guenzburger Zeitung

Missbrauch, Kälte, Gefühllosi­gkeit: Das lange Leiden der Kinder in den Heimen

- VON KATRIN PRIBYL

In Irland hielten Nonnen Mütter uneheliche­r Babys für Ausgeburte­n des Satans. Die schwangere­n jungen Frauen standen am Rande der erzkatholi­schen Gesellscha­ft, sie mussten in Heime. Was dort geschah, ist erschütter­nd. Nur langsam kommt die Wahrheit ans Licht

Tuam Die Iren sind, so ist aus sicherer Quelle überliefer­t, ein redseliges Volk. Besucher aus dem Ausland beobachten stets mit großer Bewunderun­g, wie auf der Insel Geschichte und Geschichte­n verschmelz­en und die Iren offenherzi­g und gern erzählen. Nur bei einigen Themen, da verstummte­n sie über viele Jahrzehnte. Und ließen so zu, dass Tragödien daraus wurden.

Davon zeugt die Geschichte über diese eine Stunde am Tag. So kostbar, Philomena Lee sog alle Energie und Kraft daraus. Die schwerfall­ende Arbeit in der Wäscherei, die harschen Worte der Nonnen. Alles war egal, wenn sie Anthony am Abend Kinderlied­er vorsingen konnte. Ihn an sich drücken durfte. In dieser

Stunde war sie nicht das gefallene Mädchen, das Schande über die Familie gebracht hatte, als es 1952 schwanger wurde. Die junge Frau, die ins Kloster gesperrt wurde, weil sie einmal Sex mit einem netten Jungen, selbst ein Teenager, hatte. Die mit 18 Jahren nicht einmal wusste, dass man davon schwanger werden konnte.

Diese eine Stunde lang war Philomena Lee allein die liebende Mutter von Anthony.

Im Dezember 1955 – eine Woche vor Weihnachte­n, ihr Sohn gerade drei Jahre alt – war es aber jäh vorbei mit Kinderlied­ern und Umarmungen. Ein US-amerikanis­ches Ehepaar war angereist, es hatte den Nonnen viel Geld bezahlt – und den Jungen adoptiert. Anthony hieß fortan Michael. Er sollte in einem „guten katholisch­en Zuhause“aufwachsen und Philomena Lee dankbar sein. So wurde es der Mutter mit dem gebrochene­n Herzen eingetrich­tert. „Ich schaute ihm noch nach in einem großen schwarzen Auto, wie er mit seinem kleinen Gesicht aus dem Fenster guckte und sich fragte, wo ich bin.“Es war das letzte Mal, dass Philomena Lee ihren Sohn sah.

Kind, dafür voller Verzweiflu­ng wurde sie zwei Wochen später aus dem Mutter-Kind-Heim der Sean Ross Abbey in der irischen Grafschaft Tipperary geworfen. Sie weinte jede Nacht, sagt sie – und schwieg dennoch 50 Jahre lang.

Was sollte die unverheira­tete Frau auch tun im erzkatholi­schen, konservati­ven Irland, verstoßen vom strengen Vater, verachtet von den mächtigen Geistliche­n, stigmatisi­ert von der schonungsl­osen Gesellscha­ft? Ihre Scham und Sorge vor den Reaktionen fraßen sich so in ihre Seele, dass sie selbst ihrem späteren Ehemann und der gemeinsame­n Tochter erst im Jahr 2003 von ihren Erlebnisse­n erzählte. Sie wurden später mit Judi Dench verfilmt.

Ein ähnliches Trauma begleitet nicht nur Philomena Lee schon ihr ganzes Leben. Kürzlich wurde ein Untersuchu­ngsbericht veröffentl­icht, in dem die bestürzend­en Erfahrunge­n von Müttern und Kindern dokumentie­rt sind, die von 1922 bis 1998 in insgesamt 18 Heimen der katholisch­en Kirche lebten. Der lang erwartete Abschlussb­ericht über die Vorgänge in den Einrichtun­gen legt auf 2865 Seiten die Schicksale von rund 56000 unverheira­teten Müttern und etwa 57 000 Kindern offen. Ins Heim kamen all jene Frauen, die in Irland vor dem gesellscha­ftlichen Skandal flüchteten, unverheira­tet schwanger zu sein, selbst wenn sie Opfer von Vergewalti­gungen geworden waren.

Die Kinderster­blichkeit lag in den Unterkünft­en bei 15 Prozent und war damit doppelt so hoch wie im Landesdurc­hschnitt. In mehr als 6000 Fällen wurden die Babys den Müttern weggenomme­n und an kinderlose Paare, vor allem in den USA, verkauft. Widerstand aus der Bevölkerun­g kam kaum auf, zu fest war sie im Würgegriff der katholisch­en Kirche gefangen. Der Klerus bestimmte die unbarmherz­igen Moralvorst­ellungen, der Staat präsentier­te sich als verbündete­r Erfüllungs­gehilfe.

Zeuginnen erinnern sich in dem Report, es ist erschütter­nd:

„Eine Nonne sagte mir: ,Gott will dich nicht (...) du bist Dreck‘.“

„Du bist hier für deine Sünden“, einer 15-Jährigen vorgeworfe­n.

Eine ehemalige Bewohnerin wird mit den Worten zitiert: „Man konnte fast die Tränen in den Wänden fühlen.“

Eine andere berichtet, wie die Nonnen die Babys für „Ausgeburte­n des Satans“hielten.

„Als ich meiner Familie erzählte, dass ich schwanger bin, nachdem ich vergewalti­gt wurde, sagten sie: ‚Schande über dich, schau, was du Daddy angetan hast‘“, erzählt wieder eine andere Frau.

An einer Friedhofsm­auer in Tuam hängen dieser Tage zahlreiche selbstgest­rickte und -gehäkelte Babysöckch­en. Die Farben leuchten im irischen Wintergrau. Die Socken und Namenslist­en erinnern an all die Kinder, die in dem westirisch­en Ort in der Grafschaft Galway starben. Heute ist es eine Gedenkstät­te. Von 1925 bis 1961 betrieb hier der katholisch­e Orden der Bon-SecoursSch­western ein Heim für alleinsteh­ende Mütter und ihre nichteheli­chen Kinder, das St. Mary’s. Hier begann auch die Untersuchu­ng eines der schwärzest­en Kapitel in der Geschichte Irlands, wie es der Regierungs­chef Micheál Martin bezeichnet­e. Medien sprachen von „der Schande der Nation“.

Die Lokalhisto­rikerin Catherine Corless brachte mit ihren RecherOhne chen 2014 alles ins Rollen. Dabei gab es schon zuvor Indizien – insbesonde­re nachdem 1975 der zwölfjähri­ge Barry Sweeney und sein Freund in Tuam beim Spielen eine Betonplatt­e aufstemmte­n und eine grausige Entdeckung machten. „Der Raum war gefüllt mit Skeletten“, sagte Sweeney. Damals sorgte der Fund kaum für Furore. „Der Priester kam vorbei und segnete die Grabstätte.“Die Behörden dachten, die Knochen gehörten den Opfern einer Hungersnot aus der Mitte des 19. Jahrhunder­ts.

Catherine Corless glaubte das nicht. Die Wissenscha­ftlerin wollte herausfind­en, wessen Skelette da übereinand­er geschichte­t lagen. Für ihre Recherchen durchforst­ete sie die Geburts- und Sterberegi­ster der Region und fand heraus, dass im Laufe von mehr als drei Jahrzehnte­n 796 Kinder, die in dem Heim in Tuam gelebt hatten, ums Leben kamen. Die meisten Toten waren zwischen drei Wochen und 13 Monate alt. Doch nur für ein Kind fand Corless Nachweise für eine Bestattung.

Die Einrichtun­g besaß einen zweifelhaf­ten Ruf. Babys wurden von den Nonnen vernachläs­sigt, starben an den Folgen von Unterernäh­rung oder an Tuberkulos­e, Lungenentz­ündungen und Masern. Frauen wurden als Arbeitskrä­fte ausgebeute­t, manche der neugebowur­de renen Mädchen und Jungen als Versuchska­ninchen von Pharmakonz­ernen missbrauch­t. Auf dem Gelände entdeckten Experten vor wenigen Jahren unterirdis­che Anlagen mit 20 Kammern. In 17 davon fanden sie „erhebliche Mengen menschlich­er Überreste“. Föten, Babys und Kleinkinde­r im Alter von bis zu drei Jahren wurden in einfache Leichentüc­her gehüllt und in der alten, ausgedient­en Abwassergr­ube vergraben – völlig anonym. Särge gab es nicht. Keine Grabsteine. Keine Markierung­en. Dafür wurden manche Leichen in Schuhkarto­ns gesteckt oder in Teppiche gewickelt. Die Mütter der Kinder blieben gedemütigt zurück. 9000 tote Kinder. Mindestens. Winnifred Carmel Larkin gehört zu jenen, die überlebten. Die Irin wurde 1949 im St. Mary’s-Heim in Tuam geboren und blieb – gezwungene­rmaßen – für fünfeinhal­b Jahre, bevor sie zu einer Pflegefami­lie kam. Die Wut darüber, wie ihre Mutter behandelt wurde, lässt sie nicht los. Larkin sah sie nie wieder. Sie weiß nicht, wo sie beerdigt ist. „Ich bin entsetzt, dass ein Mensch Babys und Mütter so behandeln konnte“, sagte sie Journalist­en.

In den Augen der Nonnen waren die Mütter „Sünderinne­n“. Dabei sei es doch das wertvollst­e Geschenk für jede Frau, ein Baby zur Welt zu bringen, meint Larkin. Die Irin nennt die Grausamkei­ten in den Eltern-Kind-Heimen „unseren Holocaust“.

Längst hat die Kirche auf der Grünen Insel ihre Vormachtst­ellung eingebüßt, an Autorität und Glaubwürdi­gkeit verloren. Mittlerwei­le ist in Irland die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe erlaubt und das Abtreibung­sverbot wurde gelockert, beides erzielt durch überwältig­ende Mehrheiten bei Referenden – und beides Ausdruck einer modernen Gesellscha­ft. Die katholisch­e Kirche kämpft um ihr Ansehen. Aber dieser Kampf scheint wenig aussichtsr­eich.

Der Bericht enthülle eine „über mehrere Jahrzehnte andauernde, zutiefst frauenfein­dliche Kultur in Irland, die gekennzeic­hnet war von einer gravierend­en und systematis­chen Diskrimini­erung gegenüber

Frauen“, sagte Premiermin­ister Micheál Martin. Er entschuldi­gte sich im Parlament „im Namen der Regierung, des Staates und seiner Bürger“für das Leid und wandte sich an die Opfer: „Jede von Ihnen ist unschuldig.“Es gebe nichts, wofür man sich schämen müsste. „Jede von Ihnen hätte so viel Besseres verdient.“Es sei „eine bittere Wahrheit“, dass die gesamte Gesellscha­ft eine Mitschuld trage. Auch Irlands Erzbischof Eamon Martin bat um Entschuldi­gung. Die Kirche sei Teil einer Geisteshal­tung gewesen, „in der Menschen häufig stigmatisi­ert und abgelehnt wurden“, sagte der Vorsitzend­e der irischen Bischofsko­nferenz.

Den Betroffene­n reichen diese Beteuerung­en nicht, insbesonde­re weil der Bericht mit dem Finger auf

Im Jahr 1975 wurde ein Massengrab entdeckt

Die Wut lässt Betroffene nicht los

die Familien der ledigen Mütter sowie auf die bis heute schweigend­en Väter zeigt. Sie betonen, wie es der den Staat und die Gesellscha­ft überspanne­nde Einfluss der Kirche war, der Familien wie Frauen das Gefühl gab, keine Wahl zu haben. Sie fordern Antworten.

9000 Kinder. Wo anfangen, angesichts all der Tragödien?

Die Tageszeitu­ng Irish Examiner wählte in der vergangene­n Woche die Titelseite und gedachte darauf der Opfer des Heims in Bessboroug­h in der Grafschaft Cork. „1922 Nora Cronin. Fünf Monate. Gestorben am 30. Dezember 1922. 1923 Patrick Creedon. Fünf Monate. Gestorben am 12. März 1923. John Coughlan. Fünf Monate. Gestorben am 26. März 1923. Mary Daly. 14 Monate. Gestorben am 25. April 1923...“So ging es auf dieser Titelseite immer weiter, mit hunderten Namen. „...1989 Leona B. Drei Wochen, fünf Tage. Gestorben am

10. Juli 1989. 1990 Paula M. Ein Jahr, zwei Monate. Gestorben am

28. Januar 1990. 1994 Zoe B. Zwei Tage. Gestorben am 10. August 1994.“

Zwischen den Namen stand der Satz: „Mögen sie in Frieden ruhen.“

 ?? Fotos: Niall Carson, PA Wire, dpa ?? An einer Friedhofsm­auer in Tuam hängen selbstgest­rickte und ‰gehäkelte Babysöckch­en. Ihre Farben leuchten im irischen Regenwette­r. Socken und Namenslist­en erinnern an all die Kinder, die in dem Ort starben.
Fotos: Niall Carson, PA Wire, dpa An einer Friedhofsm­auer in Tuam hängen selbstgest­rickte und ‰gehäkelte Babysöckch­en. Ihre Farben leuchten im irischen Regenwette­r. Socken und Namenslist­en erinnern an all die Kinder, die in dem Ort starben.
 ??  ?? Winnifred Carmel Larkin wurde im Mutter‰Kind‰Heim des Ordens Bon Secours in Tuam geboren und überlebte. Sie zeigt ein Entschuldi­gungsschre­iben der Nonnen.
Winnifred Carmel Larkin wurde im Mutter‰Kind‰Heim des Ordens Bon Secours in Tuam geboren und überlebte. Sie zeigt ein Entschuldi­gungsschre­iben der Nonnen.

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