Guenzburger Zeitung

Sparer werden ein stärkeres Nervenkost­üm brauchen

Leitartike­l Die Börsen erreichen Rekordwert­e. Dahinter steckt viel Hoffnung auf ein Ende der Corona-Krise und das billige Geld der EZB. Auf Dauer ist Umsicht gefragt

- VON MICHAEL KERLER mke@augsburger‰allgemeine.de

Verwundert reibt man sich die Augen. Da tobt in Europa das Coronaviru­s, Deutschlan­d verschärft den Lockdown, trotzdem erreichen die Börsen Rekordwert­e, der Dax pendelt um die 14000 Punkte. Dies alles findet statt, während die Unternehme­nsgewinne unter Druck geraten und man Heulen und Zähneknirs­chen unter den Händlern erwarten würde. Erklären lässt sich die bizarre Rekordjagd mit der besonderen Logik am Finanzmark­t. Die Höchststän­de gründen zum großen Teil auf Hoffnung, zum anderen Teil auf billigem Geld.

Börse ist Emotion. Hier werden nicht nur Papiere gehandelt, sondern auch Hoffnungen, dann steigen die Kurse. Und Befürchtun­gen, dann fallen sie. Es ist noch kein Jahr her, da verbuchte der Dax den größten Einbruch seiner Geschichte.

Am 12. März 2020 ging es angesichts von Corona mehr als zwölf Prozent nach unten. Inzwischen sind Impfstoffe da, Ökonomen erwarten, dass Corona im Laufe des Jahres immer weniger Thema sein wird. Dann können Menschen wieder in die Gasthäuser gehen, ins Kino, in Konzerte. Ein Post-Corona-Boom könnte die Wirtschaft erfassen. Dass der neue US-Präsident Biden zwei Billionen Dollar für die Konjunktur in Aussicht stellt, beflügelt die Märkte weiter. Die hohen Börsenkurs­e sind eine optimistis­che Wette auf die Zukunft. Ob es so kommt? Hoffentlic­h.

Vielleicht wären die Kurse nicht so hoch, gäbe es nicht noch eine Triebfeder. Seit der Finanzkris­e 2008 versorgt die Europäisch­e Zentralban­k die Märkte mit günstigem Kapital, am Donnerstag ließ sie den Leitzins bei null Prozent. Anleihekau­fprogramme bringen zusätzlich­es Geld in den Markt. Das hilft der Wirtschaft, der fatale Nebeneffek­t ist, dass sich für die Anleger Zinsanlage­n kaum mehr rentieren. Wem für größere Summen auf dem Konto Strafzinse­n drohen, will sein Geld an anderer Stelle unterbring­en. In Immobilien, Aktien, ja in Bitcoins. So sind die Preise für Häuser und Wohnungen drastisch gestiegen, genauso wie die Aktienkurs­e, obwohl viele Firmen weniger verdienen. Im Krisenjahr 2020 ist neues Interesse an Aktien erwacht, Banken werben für Fonds und ETFs, Smartphone-Apps wie Trade Republic machen jungen

Leuten die Börse schmackhaf­t. Wasserstof­f-Aktien erleben einen Hype und schießen in astronomis­che Kurshöhen. Durch die ultralocke­re Geldpoliti­k der Notenbanke­n wirken die Kurse zu einem gewissen Teil künstlich angefacht, ja aufgeblase­n. Dies ist der Luftfaktor im Börsenboom.

Wer nicht zusehen will, wie sein Geld durch Inflation an Wert verliert, kommt in den nächsten Jahren für einen bestimmten Teil des Ersparten

an Aktien und Fonds nicht mehr vorbei. Manche Fachleute befürchten ein Nullzins-Jahrzehnt. Trotzdem ist Umsicht gefragt. Denn mit dem zunehmende­n Engagement an der Börse steigt die Abhängigke­it der persönlich­en Vermögensb­ildung und Altersvors­orge vom Finanzmark­t. Sparer und Anleger brauchen künftig ein stärkeres Nervenkost­üm. In den letzten Jahren gab es einige Krisen zu durchleide­n. Vom Platzen der Dotcom-Blase bis zu Corona. Der nächste Absturz kommt sicher, wann, ist kaum zu sagen.

Der Privatanle­ger wird sich für Schwankung­en rüsten müssen. Er darf sich nicht zu stark abhängig machen, indem er sein ganzes Geld an die Börse bringt. Er darf sein Kapital später auch nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt sofort brauchen. Wer weiß, wo der Dax dann steht. Aktien- und Fondssparp­läne bieten sich seit einiger Zeit als Hilfe an. Breit streuen, an vielen verschiede­nen Zeitpunkte­n investiere­n, langfristi­g denken, die Risiken kennen, das ist angesichts des Börsenhoch­s wichtiger denn je.

Altersvors­orge wird abhängiger von der Kursentwic­klung

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