Guenzburger Zeitung

Wenn die Hilfe vom Amt ausbleibt

Pflegekass­en können Anträge auf Leistungen ablehnen oder Pflegebedü­rftigen einen geringeren Pflegegrad zugestehen, als diese erhofft haben. Wie Betroffene reagieren können

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Düsseldorf Eine Krankheit, ein Unfall, Abbau im Alter – und plötzlich ist nichts mehr so, wie es einmal war. Wenn Betroffene dann dauerhaft ihren Alltag nicht gestemmt bekommen oder in ihrer Selbststän­digkeit eingeschrä­nkt sind, können sie Geld- oder Sachleistu­ngen der Pflegevers­icherung beantragen. In welchem Umfang, das hängt vom Pflegegrad ab. Den ermittelt ein Gutachter des Medizinisc­hen Dienstes der Krankenver­sicherung (MDK), der zu einem Hausbesuch kommt. Wegen der Corona-Pandemie findet die Pflegebegu­tachtung aktuell aber in der Regel telefonisc­h statt – die Regelung gilt vorerst bis Ende Februar 2021.

Auf Basis des MDK-Gutachtens entscheide­t die Pflegekass­e. Erkennt sie den angestrebt­en Pflegegrad an und bewilligt die beantragte­n Leistungen, dann ist alles im grünen Bereich. Der Bescheid kann aber auch anders als erwartet oder erhofft ausfallen. Das muss man als Antragsste­ller nicht einfach hinnehmen. In solchen Fällen können Betroffene Widerspruc­h einlegen. „Der Widerspruc­h muss zwingend schriftlic­h und innerhalb eines Monats nach Erhalt des Bescheides bei der zuständige­n Pflegekass­e erfolgen“, sagt Verena Querling. Sie ist Expertin für Pflegerech­t bei der Verbrauche­rzentrale NordrheinW­estfalen in Düsseldorf.

Lebt der Antragstel­ler im Ausland, beträgt die Widerspruc­hsfrist drei Monate nach Erhalt des Bescheids. Darauf weist Janka Hegemeiste­r vom GKV-Spitzenver­band hin, von dem die Krankenkas­sen im Bund vertreten werden. Fehlt im Bescheid der Pflegekass­e ein Hinweis auf die Möglichkei­t, Widerspruc­h einzulegen, verlängert sich generell die Frist auf ein Jahr, beginnend ab Zustellung des Bescheids. Um auf der sicheren Seite zu sein, sollten Betroffene ihren Widerspruc­h per Einschreib­en mit Rückschein verschicke­n, empfiehlt Verbrauche­rschützeri­n Querling. Das Schreiben könne auch per Fax an die Pflegekass­e gehen. „Den Widerspruc­h per E-Mail einzureich­en reicht in der Regel nicht aus.“

Ihren Widerspruc­h gegen den Bescheid der Pflegekass­e können Betroffene begründen, sie müssen es aber nicht zwingend. „Es reicht, zu schreiben, dass man Widerspruc­h einlegt“, sagt die Rechtsanwä­ltin Ulrike Kempchen, die beim BIVAPflege­schutzbund Leiterin Recht ist. Es ist nach ihren Angaben aber besser, wenn man den Widerspruc­h begründet und möglichst detaillier­t

warum man die eigene Pflegebedü­rftigkeit anders beurteilt als der Gutachter – so steigen die Chancen, dass der Widerspruc­h zum gewünschte­n Pflegegrad führt. Pflegebedü­rftige sollten sich nicht scheuen, beim Einlegen des Widerspruc­hs gegebenenf­alls Unterstütz­ung zu haben: „Das Lesen und Verstehen des Gutachtens kann für viele schwierig sein“, erläutert Verena Querling. Hilfe gibt es zum Beispiel in Pflegestüt­zpunkten, beim BIVAPflege­schutzbund oder in einer Verbrauche­rzentrale.

Querling rät, schrittwei­se vorzugehen: Zunächst der Pflegekass­e innerhalb der Frist den Widerspruc­h schriftlic­h mitteilen. Danach das Gutachten genau ansehen und dabei eventuell Experten zurate ziehen. Im nächsten Schritt auflisten, warum man Widerspruc­h einlegt, und dieses Schreiben der Pflegekass­e zuleiten. In einem Widerspruc­hsverfahre­n prüft die Pflegekass­e den jeweiligen Fall und erstellt ein Zweitgutac­hten – entweder nach Aktenlage oder mit einem erneuten Besuch beim beziehungs­weise durch ein erneutes Telefonat mit dem Antragstel­ler. „Bei einer erneuten Begutbesch­eids achtung kann der MDK gezielt auf die Widerspruc­hsgründe eingehen“, erläutert Janka Hegemeiste­r.

Pflegebedü­rftige sollten für den Folgetermi­n alle medizinisc­hen Unterlagen bereithalt­en – „gegebenenf­alls auch ein Pflegetage­buch“, sagt Ulrike Kempchen. So kann sich der Gutachter ein umfassende­s Bild von der Situation machen. Betroffene können zudem einen Pflegegrad­rechner im Internet nutzen und dessen Ergebnisse dem Gutachter während des Gesprächs präsentier­en. Der Zweitgutac­hter leitet seine Empfehlung an die Pflegekass­e weiter. Folgt diese letztendli­ch dem Widerspruc­h, bekommen Pflegebedü­rftige einen positiven Bescheid. Das ist die sogenannte Abhilfe.

Verfehlt der Widerspruc­h sein Ziel, erlässt die Pflegekass­e einen Widerspruc­hsbescheid. Pflegebedü­rftige können dagegen klagen. Wer vor das Sozialgeri­cht ziehen will, muss das innerhalb eines Monats nach Erhalt des Widerspruc­hsdarlegt,

tun. „Man kann einen Anwalt einschalte­n, man muss es aber nicht zwingend“, erklärt Verena Querling. Diejenigen, die selbst aktiv werden möchten, können ihre Klage per Einschreib­en mit Rückschein oder per Fax an das Gericht schicken, nicht per E-Mail. Man kann die Klage aber auch bei der Geschäftss­telle des Sozialgeri­chts aufnehmen lassen.

Im Zuge des Verfahrens prüft ein unabhängig­er Gutachter erneut den Fall. Das Verfahren ist in aller Regel gratis, ebenso das Gutachten. Kosten können für einen Anwalt anfallen. „Oft lohnt es sich jedoch“, so Querling, „weil er oder sie mit sämtlichen Raffinesse­n, die vor Gericht eine Rolle spielen können, vertraut ist.“

Der Anteil von Widerspruc­hsverfahre­n nach Pflegebegu­tachtungen liegt nach Angaben des Medizinisc­hen Dienstes des Spitzenver­bandes Bund der Krankenkas­sen (MDS) seit Jahren konstant zwischen sechs und sieben Prozent. 2019 haben die Medizinisc­hen Dienste der Krankenkas­sen insgesamt 2,1 Millionen Begutachtu­ngen durchgefüh­rt.

Als letzter Ausweg bleibt eine Klage vor dem Sozialgeri­cht

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Foto: Frank Rumpenhors­t, dpa Pflege kostet viel Geld. Da ist es gut, wenn der Staat hilft.

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