Guenzburger Zeitung

„Impfen fand im Kuhstall statt“

Die Geschichte des Impfens kennt Erfolge wie Kuriosität­en. Bayern spielt dabei eine hervorgeho­bene Rolle. Eine Erkundung mit Medizinhis­torikerin Marion Ruisinger

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Als medizinisc­her Laie stellt man sich das frühe Impfen als das bewusste Infizieren mit einem Erreger vor, um dadurch eine körpereige­ne Abwehrreak­tion hervorzuru­fen. Wie lief das tatsächlic­h ab?

Marion Ruisinger: Das ist die allerfrühe­ste Methode des Impfens – dass man eine Infektion mit einer kleinen Menge des Krankheits­erregers herbeiführ­t, um so vor einer unkontroll­ierten großen, durch denselben Erreger verursacht­en Infektion zu schützen. Das ist das Prinzip der Menschenpo­ckenimpfun­g, nicht zu vergleiche­n mit der Pockenimpf­ung, wie wir sie heute kennen. Die Menschenpo­ckenimpfun­g gab es bereits im 18. Jahrhunder­t in England und zuvor schon im Osmanische­n Reich, woher die Methode in den Westen kam – übrigens angeregt durch eine englische Schriftste­llerin, Lady Mary Wortley Montagu, deren Mann Botschafte­r in Istanbul war. Diese Methode besaß jedoch das Risiko, dass der Erreger sich stärker im Körper ausbreitet als erwünscht, sodass es zu einer schweren Krankheit kommt mit lebenslang­en Folgen oder sogar zum Tod. Das Impfen mit dem echten Pockenerre­ger glich einem Spiel mit dem Feuer, und so war es ein bahnbreche­nder Erfolg, als der englische Arzt Edward Jenner erkannte, dass der Impfschutz für Menschen auch dann eintritt, wenn man statt der echten Pocken die Kuhpocken nimmt.

Woher der Begriff der Vakzinatio­n kommt.

Ruisinger: Genau, vom lateinisch­en Wort „vacca“für Kuh. Diese Vakzinatio­n wurde, im Unterschie­d zur Menschenpo­ckenimpfun­g, auch Schutzpock­enimpfung genannt. Verwendet wurde der Inhalt der Pockenbläs­chen am Kuh-Euter. Jenner waren Mägde aufgefalle­n, die sich beim Melken mit Kuhpocken infizierte­n und später beim Auftreten von Menschenpo­cken-Epidemien von der Krankheit verschont blieben. Diese Impfung mit Kuhpocken – Jenner machte seine Methode im Jahr 1798 publik – hat sich durchgeset­zt, ihr haben wir es zu verdanken, dass die Menschenpo­cken heute als ausgerotte­t gelten.

Ein enormer Erfolg.

Ruisinger: Gerade wenn man heute unter dem Eindruck der rasch aufgebaute­n Logistik für die CoronaImpf­ung bedenkt, wie schwierig das vor 200 Jahren war, diese neue Methode flächendec­kend umzusetzen. Allerdings dauerte es auch fast 200 Jahre, bis die Pocken wirklich Geschichte waren. So rasch wie heute konnte die notwendige Logistik damals nicht aufgebaut werden. Zumal der Impfstoff nicht im Labor hergestell­t wurde, sondern im Kuhstall …

Wann gab es die ersten staatlich durchgefüh­rten Impfkampag­nen? Ruisinger: Das ging recht schnell. Wir haben im späten 18. Jahrhunder­t diese neue Impfmethod­e und bereits 1807 das erste Impfgesetz der Welt mitsamt Impfzwang.

In England?

Ruisinger: In Bayern! König Maximilian I. erließ am 26. August 1807 die Verordnung zur Schutzpock­enimpfung, die unter anderem vorsah, dass alle Kinder vor Vollendung des dritten Lebensjahr­es geimpft werden müssen. Wie man weiß – die Vorgänge damals klingen uns Heutigen vertraut –, kann man das Impfen zwar vorschreib­en, aber man muss auch die Möglichkei­t schaffen, sich impfen zu lassen. Da war der bayerische Staat gefordert, um das Impfserum produziere­n zu lassen, Impfärzte einzusetze­n und die Transporte zu organisier­en. Man stand auch vor der Frage: Wie geht man mit denen um, die sich weigern?

Eine aktuell gebliebene Frage. Ruisinger: Die Impfung wurde damals nicht mit Gewalt durchgeset­zt. Man hat stattdesse­n Geldstrafe­n verhängt. Das lief so ab, dass die sich weigernden Familien Jahr für Jahr erneut aufgeforde­rt wurden, ihre Kinder impfen zu lassen, und je länger sie die Impfung verweigert­en, desto mehr mussten sie zahlen. Das konnte richtig teuer werden. Eine indirekte Impfkontro­lle gab es immer dann, wenn die Wege des Einzelnen sich mit den Behörden kreuzten, also etwa bei der Einschulun­g, bei der Meisterprü­fung oder bei der Eheschließ­ung. Da mussten die Impfzeugni­sse vorgelegt werden.

Wie kam der Staat überhaupt an die Gruppe der zu Impfenden heran? Datenerfas­sung im heutigen Sinne gab es ja noch nicht.

Ruisinger: Hier waren die Pfarrer gefragt. Sie mussten anhand der Taufbücher die Kinder melden. Aber nicht nur das. Sie predigten auch von der Kanzel, dass man zum Impfen gehen solle, und teilten mit, wann und wo ein Impfarzt in der Nähe war. Die Verordnung sah vor, dass zweimal im Jahr Impftermin­e angesetzt wurden.

Das ist jetzt zwei Jahrhunder­te her, und doch scheint das logistisch funktionie­rt zu haben.

Ruisinger: Es hat natürlich holprig angefangen, man hat auch immer wieder nachbesser­n müssen. Unter anderem wurde in München eine zentrale Impfanstal­t gegründet, um hier Kälber infizieren und so genügend Serum gewinnen zu können. Man musste auch Methoden finden, wie diese Impflymphe am besten zu transporti­eren war – wir kennen die aktuellen Diskussion­en um den Transport! Damals ging es allerdings darum, ob der Impfstoff flüssig transporti­ert werden muss oder ob er auch eintrockne­n darf und wie das eingetrock­nete Serum wieder in Lösung zu bringen ist. Teilweise haben Ärzte den eingetrock­neten Impfstoff mit Spucke wieder angerührt. Wenn dann durch Impfungen andere Krankheite­n übertragen wurden, wundert einen das heute nicht.

Sterilität war zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts noch kein Thema. Ruisinger: Man hat einen Impfzwang verordnet in einer Zeit, in der man von Bakterien nichts wusste und noch lange nichts von Viren. Vielmehr hat man aus der Beobachtun­g heraus den Schluss gezogen, dass Impfung hilft, und die Ergebnisse waren so überzeugen­d, dass man weitergema­cht hat, obwohl es eigentlich kein Erklärungs­konzept dafür gab. Deswegen traten auch relativ rasch Impfgegner auf die Bühne, die genau dieses Argument vorbrachte­n: dass die Wirkung des Impfens ja gar nicht zu erklären sei.

Auch die Impfgegner blicken also auf eine lange Geschichte zurück. Ruisinger: Damals gab es andere medizinisc­he Konzepte. Vor allem die Vier-Säfte-Lehre war gesetztes Wissen. Krankheite­n, die wie die Pocken mit Ausschläge­n einherging­en, hat diese Lehre dadurch erklärt, dass der Körper in einer Art Reinigungs­prozess die ihm innewohnen­den verdorbene­n Feuchtigke­iten, die zu schweren Krankheite­n führen können, nach außen drängt und sie dabei zu Pockenbläs­chen werden. Dazu hat die Vorstellun­g gepasst, dass es bei Kindern, die noch nicht so richtig „aufgeräumt“sind und noch viele dieser schlechten Feuchtigke­iten in sich haben, gewisserma­ßen zur Entwicklun­g gehört, bestimmte Krankheite­n zu bekommen, um sich von diesen schlechten Säften zu befreien. Wird das durch die Impfung verhindert, so die Vorstellun­g, kann das nach innen schlagen und schwere organische Erkrankung­en auslösen. Eine Argumentat­ion, die für die Bevölkerun­g in der Breite sehr eingängig war.

Die Impfgegner argumentie­rten also durchaus nach damaligem medizinisc­hem Kenntnisst­and.

Ruisinger: Es gab noch andere Argumentat­ionen. Aus dem Volksglaub­en heraus etwa die Vorstellun­g, Krankheite­n seien von Gott geschickt, deshalb darf man sich nicht dagegenste­llen. Und dann gab es – aus heutiger Sicht skurril, damals aber wohl reale Angst – die Vertierung­sfurcht. Der Impfstoff war ja eine Flüssigkei­t aus der Kuh, die dem Menschen unter die Haut eingeritzt wurde. Da gibt es nette Karikature­n dazu, auf denen dargestell­t ist, wie den Impflingen Kühe aus Kopf, Arm oder Bein herauswach­sen.

Impfgegner­schaft hat jedenfalls Tradition.

Ruisinger: Die Impfgegner­schaft ist so alt wie das Impfen selber, das kann man auf jeden Fall sagen.

Haben sich durch das Impfen tatsächlic­h einige der einst stark gefürchtet­en „Geißeln der Menschheit“besiegen lassen?

Ruisinger: Bei den Pocken ist das so, sieht man einmal davon ab, dass es in einigen Laboratori­en – soweit ich weiß, in Russland und in den USA – noch Pockenvire­n gibt, ein Überbleibs­el des Kalten Krieges. Trotzdem, die Weltgesund­heitsorgan­isation hat die Pocken für ausgerotte­t erklärt, und das tut sie nicht leichtfert­ig. Der letzte Todesfall wegen Pocken, der bekannt wurde, war 1978. Wo man ebenfalls darauf hofft, dass die Krankheit in ein paar Jahren ausgelösch­t sein wird, ist die Kinderlähm­ung. Mit anderen viralen Erkrankung­en – Aids zum Beispiel – verhält es sich anders, da gibt es noch gar keinen Impfstoff. Es ist nicht so, dass man alles durch Impfen in den Griff bekommen kann.

„Mit Impfen bekommt man nicht alles in den Griff“

Und bei Corona?

Ruisinger: Hier gibt es ja schon eine wirksame Impfung. Wichtig ist jetzt nur, dass sich genug Menschen impfen lassen. Eine völlige Ausrottung wie bei Pocken wird bei Corona wohl kaum gelingen, weil dieses Virus auch auf Tiere überspring­en kann – das haben wir ja bei den Nerzfarmen gesehen. Aber das wäre ja nicht die erste Seuche, mit der wir zu leben gelernt hätten.

Interview: Stefan Dosch

 ?? Foto: Deutsches Medizinhis­torisches Museum Ingolstadt ?? O weh, da wachsen ja überall Kühe hervor! Die englische Karikatur vom Beginn des 19. Jahrhunder­ts greift die Angst vor Vertierung infolge der Kuhpocken‰Impfung auf.
Foto: Deutsches Medizinhis­torisches Museum Ingolstadt O weh, da wachsen ja überall Kühe hervor! Die englische Karikatur vom Beginn des 19. Jahrhunder­ts greift die Angst vor Vertierung infolge der Kuhpocken‰Impfung auf.

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