Guenzburger Zeitung

Im Homeoffice fällt vielen das Abschalten schwer

In der Pandemie steigt der Druck, immer erreichbar zu sein. Das EU-Parlament will das regulieren. Doch hierzuland­e ist man skeptisch

- VON RUDI WAIS

Augsburg/Berlin Mal rasch noch die letzten Mails abrufen, dem Kollegen kurz eine Nachricht schreiben und vor dem Schlafenge­hen noch einen Blick auf die Termine der nächsten Tage werfen: Besonders seit Beginn der Corona-Pandemie und der Ausbreitun­g des Homeoffice verschwimm­en die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit immer weiter. Weil diese digitale Dauerbelas­tung auch zu gesundheit­lichen Schäden führen kann, will das Europaparl­ament nun eine Art Rechtsansp­ruch auf Nicht-Erreichbar­keit einführen – in Deutschlan­d ein äußerst umstritten­es Thema.

Während Arbeitgebe­rpräsident Rainer Dulger eine gesetzlich­e Regelung für „überflüssi­g“hält und auf die geltenden Gesetze zum Arbeitssch­utz verweist, nennt DGBChef Reiner Hoffmann die Initiative des Europaparl­aments „hilfreich“. Die Erwartunge­n der Arbeitgebe­r an die Erreichbar­keit ihrer Mitarbeite­r seien „oft maßlos“, kritisiert­e Hoffmann. Nach deutschem und europäisch­em Recht sei allerdings niemand verpflicht­et, seinem Arbeitgebe­r außerhalb der vereinbart­en Arbeitszei­t zur Verfügung zu stehen. „Trotzdem müssen fast 40 Prozent der Beschäftig­ten im Homeoffice auch in der Freizeit erreichbar sein.

Dies wirke sich natürlich negativ auf die Gesundheit und das Privatbezi­ehungsweis­e Familienle­ben aus“, betonte Gewerkscha­fter Hoffmann. „Außerdem leisten fast 30 Prozent unbezahlte Mehrarbeit.“Das sei eine der dunklen Schattense­iten von Homeoffice.

Aus Sicht der Arbeitgebe­r dagegen besteht kein Bedarf für eine Neuregelun­g. „Kein Arbeitnehm­er muss immer und ununterbro­chen für seinen Arbeitgebe­r erreichbar sein“, betonte Arbeitgebe­rpräsident Dulger gegenüber unserer Redaktion. Durch die Arbeitszei­trichtlini­e der EU und das deutsche Arbeitszei­tgesetz sei das längst geregelt. „Die Arbeitswel­t und die Wünsche vieler Arbeitnehm­er werden immer flexibler“, sagte Dulger. „Hier ein starres gesetzgebe­risches Korsett aufzuzwing­en verhindert genau das politisch Gewünschte: mobile Arbeit zu fördern und zu unterstütz­en.“Dazu brauche es individuel­le Lösungen auf der Ebene der Betriebe: „Arbeitgebe­r und Beschäftig­te könnten gemeinsam am besten entscheide­n, welche Lösung am praktikabe­lsten ist.“

Autoherste­ller wie Volkswagen und BMW, der Versicheru­ngsriese Axa oder der Chemiekonz­ern Evonik haben solche Regelungen bereits eingeführt. „Inwiefern man beruflich erreichbar sein muss, ist eine Frage der Unternehme­nskultur und der Arbeitsorg­anisation“, sagt Lisa Allegra Markert vom Digitalver­band Bitkom. „In den seltensten Fällen ist es erforderli­ch, dass Vorgesetzt­e eine ständige Erreichbar­keit oder sofortiges Antworten erwarten.“

Mail-Server am Abend oder am Wochenende abzuschalt­en, wie es gelegentli­ch gefordert wird, hält sie gerade in der Pandemie für schwierig, in der Eltern sich mehr um ihre Kinder kümmern müssten. Würden sie dann am Abend durch abgeschalt­ete Server am Arbeiten gehindert, „können sie de facto ihren Job nicht mehr ausüben“.

Das Europaparl­ament hat die EU-Kommission trotzdem aufgeforde­rt, für das Nicht-Erreichbar­Sein eine gesetzlich­e Basis zu schaffen: Die zunehmende Nutzung digitaler Technologi­en habe die Arbeitswel­t verändert und eine Kultur der ständigen Erreichbar­keit geschaffen, heißt es aus dem Parlament. Dies könne zu Berufskran­kheiten wie Depression­en und Burnout führen. Wie Frankreich die Nicht-Erreichbar­keit regelt und ob das ein Vorbild für Deutschlan­d sein kann, lesen Sie in der Wirtschaft.

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