Guenzburger Zeitung

Pflichtpau­se für Arbeitnehm­er

Viele Beschäftig­te sind auch am Feierabend und an den Wochenende­n für ihre Betriebe erreichbar. Frankreich verbietet das per Gesetz. Mit der Ausweitung des Homeoffice erreicht die Debatte darüber auch Deutschlan­d

- VON BIRGIT HOLZER UND RUDI WAIS

Paris/Augsburg Natürlich setzt sich Elodie auch am Abend nochmals an ihren Dienstlapt­op, wenn eine wichtige Mail von den Kollegen kommt, anstatt mit der Antwort auf den nächsten Morgen zu warten. In Zeiten der Ausgangssp­erre, die in Frankreich derzeit ab 18 Uhr gilt, hat die junge Frau, die für eine Supermarkt-Kette arbeitet, abends ohnehin nichts vor: „Ich arbeite im Homeoffice noch mehr als sonst, weil die Zeit nach hinten offen ist.“

Eine klare Regelung, die Arbeitsund Ruhezeiten festlegt, gibt es in ihrem Unternehme­n nicht. Dabei wäre dies vorgeschri­eben, seit Frankreich 2017 als erstes Land in der Europäisch­en Union das Recht auf digitale Unerreichb­arkeit eingeführt hat. Firmen mit mindestens 50 Mitarbeite­rn müssen danach per Betriebsve­reinbarung festlegen, wann die Beschäftig­ten ihre Computer und beruflich genutzten Handys abschalten dürfen, ja sogar sollen. Um Überlastun­gen oder gar Burnouts zu vermeiden, sollen sie vor Anrufen, Mails und Anfragen an Abenden, Wochenende­n oder im Urlaub geschützt werden.

Nachdem das Europäisch­e Parlament jetzt für ein EU-weites Recht auf Nichterrei­chbarkeit eintritt und die Kommission zum Erlassen eines entspreche­nden Gesetzes aufgeforde­rt hat, blicken auch die Politiker anderer Länder nach Frankreich. Die dortige Regelung allerdings ist wenig effizient. An der Ausarbeitu­ng der jeweiligen Vorgaben sollen der Betriebsra­t oder Personalve­rtreter beteiligt sein. Doch für den Fall, dass sie zu keiner Einigung mit der Unternehme­nsführung gelangen, sieht das Gesetz keinerlei Verpflicht­ung dazu und auch keine Sanktionen vor. Der Fall eines Arbeitnehm­ers, der 2018 nach einem Rechtsstre­it

mit seiner Firma mehr als 60000 Euro zugesproch­en bekam, weil diese ihn zur Erreichbar­keit über die normalen Arbeitszei­ten hinaus zwang, war eine Ausnahme.

Nur eine Minderheit der Arbeitgebe­r hat seit 2017 ein eigenes Regelwerk ausgearbei­tet. Dazu gehört etwa die Stadt Paris, die eine „Anleitung zum Abschalten“herausgab; einige wenige Firmen forderten Mitarbeite­r dazu auf, ihre Signaturen mit einem Zusatz zu versehen wie: „Wenn Sie diese Mail während ihrer Ruhezeit erhalten, müssen Sie nicht sofort darauf antworten.“Vergleiche­nde Studien zeigen allerdings, dass die Zahl der Franzosen steigt, die ihre Arbeit inzwischen auch während des Urlaubs als immer präsenter empfinden: Allein von 2018 auf 2019 wuchs ihr Anteil von 62 auf 71 Prozent. Das Abschalten gelingt demnach immer weniger, als verantwort­lich gilt das Smartphone – Gesetz hin oder her.

In Deutschlan­d gaben bei einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts YouGov im vergangene­n Jahr drei von vier Berufstäti­gen an, nach Feierabend und am Wochenende Dienstmail­s und Anrufe zu beantworte­n. Gleichzeit­ig allerdings wollen 60 Prozent der Befragten in ihrer Freizeit am liebsten ungestört sein. Ständige Erreichbar­keit, warnt auch die AOK unter Berufung auf verschiede­ne medizinisc­he Studien, „schadet unserer Gesundheit“. Der Alarmzusta­nd, in dem Beschäftig­te sich befänden, solange sie auf eingehende Nachrichte­n, Anrufe etc. warteten, sei eine körperlich­e und psychische Dauerbelas­tung und manifestie­re sich in langfristi­gen Krankheits­bildern wie Bluthochdr­uck, Diabetes und Infektions­krankheite­n.

Außerdem können der ständige Erreichbar­keitsdruck und das Warten auf Nachrichte­n zu Schlafstör­ungen und einem Verlust der Erholungsf­ähigkeit

führen. Nur gesunde, zufriedene Mitarbeite­r könnten gute Arbeitserg­ebnisse ableisten, warnt auch Lisa Allegra Markert vom Branchenve­rband Bitkom. Viele Unternehme­n, insbesonde­re aus der Digitalwir­tschaft, gingen hier bereits mit gutem Beispiel voran und böten zum Beispiel umfangreic­he Sport- und Meditation­sprogramme an. Andere haben wie BMW, Volkswagen oder der Versicheru­ngskonzern Axa längst Betriebsve­reinbarung­en mit ihren Betriebsrä­ten und Belegschaf­ten abgeschlos­sen, in denen für Tarifanges­tellte ein Recht auf Nicht-Erreichbar­keit festgeschr­ieben ist.

Ist Frankreich also ein Vorbild für Deutschlan­d? Mobile Arbeit bedeute gerade nicht, ständig erreichbar zu sein, sagt der CSU-Sozialexpe­rte Stephan Stracke. Ein spezielles Recht auf Nichterrei­chbarkeit, wie das Europäisch­e Parlament es nun erzwingen will, halte er daher nicht für erforderli­ch. „Unser Arbeitszei­tgesetz mit täglichen Höchstarbe­itszeiten und Mindestruh­ezeiten nach Arbeitsend­e bietet bereits einen sicheren Rahmen zum Schutz der Beschäftig­ten.“Er setze auf die Verantwort­ung der Tarifvertr­agsparteie­n. „Sie wissen am besten, was in den Betrieben im Hinblick auf die zunehmende Digitalisi­erung notwendig und praxisgere­cht ist.“

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Foto: Sven Hoppe, dpa Braucht es mehr Zwang, damit Arbeitnehm­er abschalten?

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