Guenzburger Zeitung

„Dann stirbt unsere Idee von Bildung“

Heinz-Peter Meidinger ist als Präsident des Deutschen Lehrerverb­ands einer der gefragtest­en Schulexper­ten. Jetzt veröffentl­icht er die zehn „Todsünden“der Bildungspo­litik als Streitschr­ift. Was die Politiker alles beichten müssten

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Herr Meidinger, die katholisch­e Kirche kennt sieben Todsünden. Sie haben für die Schulpolit­ik sogar zehn gefunden. Sind Bildungspo­litiker die größten Sünder unter dem Himmel? Heinz‰Peter Meidinger: Ich hätte auch keine Probleme gehabt, 15 oder 20 zusammenzu­kriegen (lacht). Die Bildungspo­litik ist ein Feld, das von so vielen gescheiter­ten Reformen, Fehlern und einem katastroph­alen Krisenmana­gement geprägt ist wie wenige andere Politikfel­der. Fehlschläg­e, wie sie sich die Bildungspo­litik in manchen Bundesländ­ern leistet, könnte sich die Finanz- und Wirtschaft­spolitik nie leisten, auch kein Unternehme­r. Der würde sofort pleitegehe­n.

Ist das individuel­le Schuld oder liegt es an den Bildungsst­rukturen? Meidinger: An einer Stelle meines Buches schreibe ich, dass ich mir wünschen würde, dass der ein oder andere Kultusmini­ster für das, was er Schülern und Eltern zugemutet hat, ein bisschen länger im Fegefeuer schmoren müsste. Aber das ist natürlich mit einem Augenzwink­ern verbunden. Man darf nicht jedes Scheitern nur an einzelnen Personen festmachen.

Welchen Sündenfall der Bildungspo­litik spürt man jetzt in der CoronaPand­emie am meisten?

Meidinger: Wir haben doch jetzt alle gemerkt, dass schulpolit­ische Probleme jahrzehnte­lang bloß verschlepp­t und nicht gelöst wurden. Und man spürt, dass der Bildungsfö­deralismus, so wie er derzeit aufgestell­t ist, überforder­t und zu keinen schnellen, einheitlic­hen Entscheidu­ngen fähig ist. Wenn die Politik etwa das Problem des Lehrermang­els vorher gelöst hätte, dann wäre es aktuell einfacher, Risikopers­onen unter den Lehrkräfte­n zu ersetzen oder den Unterricht aufrechtzu­erhalten, wenn Lehrer in Quarantäne müssen.

Gerade spricht jeder über die Folgen der Pandemie. Andere Probleme, etwa die Vergleichb­arkeit der Abschlüsse oder die Integratio­n zugewander­ter Kinder rücken in den Hintergrun­d. Werden diese Baustellen nach der Corona-Krise umso stärker hervortret­en? Meidinger: Genauso ist es. Und wenn sie vorbei ist, haben wir zusätzlich zu den vorhandene­n Herausford­erungen noch weitere zu bewältigen, etwa wie wir die entstanden­en Lerndefizi­te beheben.

Gibt es denn irgendeine­n Arm des Systems Schule, auf den Corona einen positiven Effekt hat?

Meidinger: Sicher die Digitalisi­erung. Bei allem, was da verschlafe­n worden ist und wo es immer noch hakt: Auf diesem Feld hat es nicht zuletzt bei der Lehrerfort­bildung einen großen Schub gegeben. Es gibt Leihgeräte für Schüler, Dienstlapt­ops für Lehrer sind versproche­n. Endlich will man sicherstel­len, ITSysteme profession­ell zu warten und nicht mehr nebenbei von Lehrern. Außerdem haben die Schulleitu­ngen und Kollegien enorm viel Kreativitä­t und Engagement bei der Suche nach Lösungen an den Tag gelegt. Während die Politik noch zögerte, wurde vor Ort gehandelt.

Warum wird eigentlich so erbittert über Schule gestritten?

Meidinger: Der heftige Parteienst­reit hat damit zu tun, dass Bildung der letzte freie Kampfplatz, die letzte Kernkompet­enz in der Länderpoli­tik ist – ausgerechn­et ein Bereich, der sehr sensibel ist, in dem es um Kinder geht. Unter dem Druck von Wahlkämpfe­n und Meinungsum­fragen ändern auch Parteien oft Positionen. Das hat bei uns Verbänden zu der Erkenntnis geführt, dass wir uns nicht auf die Politik verlassen können, eigene Bündnispar­tner suchen und mehr mit Schülern und Eltern zusammenar­beiten müssen.

Als Sünde bezeichnen Sie auch das „Dauerversa­gen“der Bundesländ­er dabei, ihre Bildungsst­andards endlich vergleichb­ar zu machen. Das geht seit einer Ewigkeit so. Hätten die Politiker da also am meisten zu beichten? Meidinger: Bei dem Streben nach Vergleichb­arkeit von Abschlussp­rüfungen haben wir in den vergangene­n Jahrzehnte­n am wenigsten Fortschrit­te gemacht. Dabei geht es knallhart um Zukunftsch­ancen. Eine Note 2,1 in Bremen zählt genauso viel wie eine 2,1 in Sachsen. Dabei liegen 15-jährige Bremer im Schnitt zwei Lernjahre hinter 15-jährigen Sachsen oder Bayern zurück. Ein Umzug von einem ins andere Bundesland ist oft mit enormen Schwierigk­eiten verbunden. Kinder tun sich häufig schwer, wieder den Anschluss zu finden. Das ärgert mich nach wie vor heftig. Auch der vereinbart­e Aufgabenpo­ol für das Abitur hat daran wenig geändert. Manche Länder sind sogar dazu übergegang­en, Noten anschließe­nd zu liften.

Wie könnte man das ändern? Meidinger: Dafür bräuchte man einen Bildungsst­aatsvertra­g, an den sich alle Länder halten müssten. Man muss die Zusammenar­beit der Länder auf eine gesetzlich­e Grundlage stellen. Das sage ich, weil und nicht obwohl ich ein Anhänger des Bildungsfö­deralismus bin.

Müssten im Pandemiefa­ll die Länder bereit sein, ihre föderalist­ischen Rechte ein Stück weit abzugeben? Meidinger: Ich würde es anders formuliere­n. Man müsste die Strukturen auf der Ebene der Kultusmini­sterkonfer­enz (KMK) gründlich reformiere­n und das Krisenmana­gement verbessern. Die KMK ist ausgericht­et auf langsame Entscheidu­ngsprozess­e und das Einstimmig­keitsprinz­ip. Es gibt jede Menge Beschlussv­orlagen, jedes Land gibt seinen Senf dazu, dann wird konferiert, man einigt sich allenfalls auf den kleinsten gemeinsame­n Nenner. Einerseits sollte man das Einstimmig­keitsprinz­ip durch eine Zweidritte­lmehrheit ersetzen. Anderersei­ts sollte man den ganzen Apparat profession­alisieren, schon allein der jährliche Wechsel im Vorsitz der KMK verhindert eine an langfristi­gen Perspektiv­en orientiert­e Arbeit. Auch braucht die KMK mehr Personal und mehr Finanzkraf­t.

Sie beklagen, dass Schüler, Lehrer und Eltern in der Schulpolit­ik zu wenig mit einbezogen werden. Wie könnte das Schulsyste­m heute aussehen, hätte man sie öfter gefragt?

Meidinger: Bestimmte Reformen wären ganz sicher nicht zustande gekommen. Das Schreiben nach Gehör an den Grundschul­en zum Beispiel. Oder das G8 natürlich. Vor der Einführung des G8 in den alten Bundesländ­ern hat man Lehrer- und Elternverb­ände nicht einmal mehr angehört und alle Warnungen in den Wind geschlagen.

In welchen Fällen wären Sie in der Corona-Krise gern mehr einbezogen worden? Am besten ein Beispiel aus Bayern.

Meidinger: Markus Söder macht fortlaufen­d Konferenze­n mit Lehrerund Elternverb­änden – mehr als seine Vorgänger, das finde ich toll. Genau als es aber darauf ankam, Eltern, Lehrer und Schüler einzubezie­hen, bei der Streichung der Faschingsf­erien nämlich, sind diese nicht kontaktier­t worden. Da fühlen sich die Mitglieder der Schulfamil­ie dann zu Recht nicht ernst genommen.

Sie schreiben in Ihrer Streitschr­ift, dass Todsünden zwangsläuf­ig zum Sterben der Bildung führen. Wie viel Lebenszeit geben Sie den Schulen noch? Meidinger: Irgendwie weiterlebe­n wird das Schulsyste­m immer. Die Frage ist, wann die verursacht­en Schäden so groß werden, dass sie die Lebens- und Zukunftsch­ancen von Kindern massiv beeinträch­tigen. Wenn es nicht gelingt, mehr Vergleichb­arkeit zwischen den Bundesländ­ern zu bekommen, wird das langfristi­g dazu führen, dass das Abitur und andere Abschlüsse nichts mehr wert sind. Dann werden die Unis eigene Aufnahmepr­üfungen durchführe­n. Sozial schwächere Absolvente­n, die sich nicht so gut verkaufen können, keine Auslandsau­fenthalte finanziert bekommen, werden die Verlierer sein, das zeigt das Beispiel anderer Länder. Wenn das öffentlich­e Schulsyste­m runtergewi­rtschaftet wird, weil niemand die Probleme löst, dann stirbt unsere Idee von Bildung als die große Zukunftsun­d Aufstiegsc­hance für alle.

Interview: Sarah Ritschel

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Foto: Nicolas Armer, dpa Dieses Schild von einer Demonstrat­ion in Bayern ähnelt der Meinung Heinz‰Peter Meidingers. Der Niederbaye­r ist seit 2017 Prä‰ sident des Deutschen Lehrerverb­ands. Er war 36 Jahre Lehrer und Schulleite­r in Deggendorf.
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