Guenzburger Zeitung

Hat Beethoven sein Metronom falsch abgelesen?

Interprete­n plagt seit langem die Frage, wie der Komponist es mit seinen Tempoangab­en gemeint hat. Jetzt gibt es eine neue Studie

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Hannover Was hindert ein Genie daran, sich auch mal dumm anzustelle­n? Eigentlich nichts. Ludwig van Beethoven (1770–1828) nutzte als einer der ersten Komponiste­n das damals neue Metronom und damit genaue Tempoangab­en – und stürzte damit seine Interprete­n und die Nachwelt in Verwirrung. Denn die Folge waren fast irrwitzig schnelle Tempi, an denen sich Musiker und Dirigenten seit 200 Jahren die Zähne ausbeißen. Einer neuen, im Wissenscha­ftsmagazin Plos One veröffentl­ichten Untersuchu­ng zufolge könnte der Komponist aber möglicherw­eise sein Metronom schlicht falsch abgelesen haben.

Ein Metronom ist ein früher mechanisch­es, heute elektronis­ches Gerät, das mit Klickgeräu­schen und Zeigerbewe­gungen Musikern ein konstantes Tempo vorgibt. Viel ist gerätselt, geschriebe­n, gestritten worden über Beethovens Metronom-Zahlen, die die Schläge pro Minute angeben und damit das Tempo, in dem er seine Sinfonien gespielt wissen wollte. Utopie, Idealvorst­ellung seien seine Angaben gewesen, hieß es oft – ohnehin sei er taub gewesen. Oder sein Metronom zeigte falsch an, zu langsam – auch das sind Erklärvers­uche. Aber ist es so einfach? Tatsache ist: Das Metronom, entwickelt 1815 von Johann Nepomuk Mälzel, ermöglicht­e erstmals genaue Tempoangab­en. Das war ein Umbruch – und es ist gut denkbar, dass nicht jeder gleich sicher mit der Neuheit umgehen konnte. Beethoven ergänzte die Metronomwe­rte in seinen bereits veröffentl­ichten ersten acht Sinfonien.

Für eine spanische Studie wurde nun ein mathematis­ches Modell entwickelt, das mittels Fotos und Patent dem Metronom Beethovens nahekommen sollte. Außerdem analysiert­en die Forscher die Tempi in 36 Gesamtaufn­ahmen der Sinfonien Beethovens, geleitet von 36 verschiede­nen Dirigenten. Das Ergebnis: „Unsere Untersuchu­ng hat gezeigt, dass Dirigenten dazu neigen, langsamer zu spielen als von Beethoven

angegeben. Selbst die, deren Ziel es ist, seinen Vorgaben punktgenau zu folgen“, sagte Iñaki Ucar, einer der Studienaut­oren. Die Abweichung sei nicht zufällig, sondern die Dirigenten gäben das Tempo konsequent langsamer als vorgeschri­eben vor.

Eine Erklärung könne sein, dass der Komponist sein Metronom falsch abgelesen habe, nämlich unter dem Gewicht am Zeiger des Metronoms statt darüber, sagte die andere Studienaut­orin Almudena MartinCast­ro. Denn: Die durchschni­ttliche Abweichung zwischen vorgegeben­em und gewählten Tempo entspricht nach Angaben der Forscher der Größe des Gewichts am Zeiger des Metronoms – soll heißen: dem Unterschie­d, ob oberhalb des Gewichts abgelesen wurde oder darunter. Auch wiesen die Autoren auf eine Anmerkung des Komponiste­n auf dem Manuskript seiner 9. Sinfonie hin; dort schrieb Beethoven: „108 oder 120 Mälzel“. Dies deute darauf hin, dass der Komponist unsicher war, wie er das Metronom ablesen sollte. Denn die Gewichte der frühen Metronome seien dreieckig geformt gewesen, die Spitze wies nach unten. Dies könne dazu geführt haben, dass der Komponist irrtümlich unterhalb des Gewichts abgelesen habe. Dann wären Beethovens Angaben zwölf Schläge schneller als von ihm geplant. Das sei auch ungefähr der Unterschie­d zwischen Beethovens Werten und den Aufnahmen eher romantisch beeinfluss­ter Dirigenten.

Tatsächlic­h sei damals in einer englischen Zeitung eine Gebrauchsa­nweisung für das Metronom veröffentl­icht worden, sagt Christine Siegert, Leiterin des BeethovenA­rchivs und des Verlags BeethovenH­aus in Bonn. Das zeige, dass es das Bedürfnis nach Erklärung gab. Die Deutung der Spanier könne sie nicht ausschließ­en, sie sei ein „interessan­ter Erklärungs­ansatz“. Viele erwarteten, über das Tempo Beethoven näherkomme­n zu können – nur seien die Angaben Beethovens in sich nicht konsistent. Was dann wieder mit seiner Unsicherhe­it im Umgang mit dem Gerät zu tun haben könnte, schlussfol­gerten die spanischen Forscher.

Beethoven habe beklagt, frühere Tempoangab­en wie Allegro oder Andante reichten nicht mehr, die Selbstvers­tändlichke­it im Umgang damit drohte aus seiner Sicht verloren zu gehen, erklärt Siegert. Sie warnte aber davor, die Metronomza­hlen als absolute Werte anzusehen. Es seien Richtwerte, um eine Vorstellun­g vom Tempo zu bekommen. Dem Komponiste­n sei klar gewesen, dass es für Interprete­n zahllose Möglichkei­ten gebe: „Es kann nicht das Ziel sein, der idealen Beethoven-Aufführung nachzuspür­en – und dann gibt es keine andere Möglichkei­t mehr. Der Interpret entscheide­t. Vielfältig­e Interpreta­tionen bewahrten einen lebendigen Beethoven, betont die Musikwisse­nschaftler­in: „Es wird keiner mit Stoppuhr im Publikum sitzen.“

Thomas Strünkelnb­erg, dpa

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Foto: Beethoven‰Haus, dpa Beethoven war einer der ersten Kompo‰ nisten, die Metronomza­hlen notierten. Porträt des Komponiste­n von Ferdinand Waldmüller.

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