Hauptstadt der CoronaMutation
Nach zwei Dutzend Infektionen mit der britischen Variante des Virus steht die Berliner Humboldt-Klinik unter Quarantäne. Doch die ansteckende Mutante hat das Krankenhaus bereits verlassen – und sucht sich ihren Weg auch in anderen Bundesländern
Berlin Über Nacht hat sich die Schneeschicht wie ein Schleier über das weitläufige Gelände des Humboldt-Klinikums am Nordgraben im Berliner Bezirk Reinickendorf gelegt. In dem winterlichen Idyll sind nur ab und an weiß gekleidete Menschen zu sehen, die zwischen kantigen Zweckgebäuden aus den 1980er Jahren hin und her eilen, manche ziehen dabei hektisch an einer Zigarette. An der leicht erhöht liegenden Zufahrt, wo sonst die Rettungswagen im Minutentakt Patienten mit Herzinfarkt oder Beinbruch in die Notaufnahme bringen, herrscht Stille. Über den Dächern, wo sonst fast unablässig gelbe Rettungshubschrauber kreisen, strahlt die Wintersonne am blauen Himmel. Normalerweise warten Krankentransporter am Straßenrand auf den nächsten Einsatz, seit einigen Tagen parken dort Übertragungswagen von Fernsehsendern, Medienleute warten, doch die Mitarbeiter eilen ohne Kommentar an ihnen vorbei.
Nichts ist mehr normal am sonst so geschäftigen Humboldt-Klinikum, seit dort am Wochenende der bislang größte Ausbruch der mutierten britischen Variante des Coronavirus in Deutschland festgestellt wurde. Inzwischen 24 Personen – 13 Patienten und elf Klinikmitarbeiter – sind erwiesenermaßen mit der Corona-Variante infiziert, die laut ersten wissenschaftlichen Erkenntnissen deutlich ansteckender und womöglich auch tödlicher ist als die bisherigen Corona-Typen. Dies bestätigte Klinik-Sprecherin Mischa Moriceau unserer Redaktion. Alle Patienten und der Großteil der Mitarbeiter wurden demnach bereits auf die Variante getestet, ein Teil der Testergebnisse stehe noch aus. Klinikleitung und Behörden reagierten offenbar schnell – trotzdem ist das Virus inzwischen auch andernorts in der Hauptstadt festgestellt worden.
Im „Humboldt“gilt seit Ende vergangener Woche ein Aufnahmestopp, Notfälle werden bis auf Weiteres in die umliegenden Krankenhäuser gebracht. Die verbliebenen rund 400 Patienten, die längerfristig einer Behandlung bedürfen, werden unter weiter verschärften Infektibetreut. Für die rund 1700 Klinikmitarbeiter gilt die sogenannte Pendelquarantäne. Sie dürfen sich nur in der Klinik oder zu Hause aufhalten und zwischen beiden Punkten unterwegs sein. Dazu sollen sie den eigens eingerichteten Hol- und Bringservice mit Kleinbussen nutzen. Auch den Angehörigen der Pfleger, Ärzte, Techniker und Verwaltungskräfte wird nahegelegt, auf Kontakte zu verzichten. Ihre Kinder etwa sollen auch nicht die Notbetreuung der Kitas wahrnehmen.
In den weitläufigen Gängen der Klinik herrsche eine gespenstische Atmosphäre, heißt es aus dem Kreis der Mitarbeiter. Manche von ihnen warten demnach derzeit noch auf ihr Testergebnis, müssen fürchten, sich selbst angesteckt zu haben. In Gesprächen,
mit maximalem Abstand geführt, erinnern sie sich, wie vor ziemlich genau einem Jahr die ersten Medienberichte auftauchten, wonach das Coronavirus erstmals in Deutschland nachgewiesen worden sei. Damals hieß es, dass von dem Erreger, der zuerst im chinesischen Wuhan auftrat, höchstwahrscheinlich keine Gefahr für Deutschland ausgehe. Der Albtraum, der gerade für das medizinische Personal folgte, ist bekannt.
Geht er nun in Verlängerung, ausgerechnet jetzt, wo Impfstoffe gerade Besserung versprachen? Von großer Verunsicherung in den Reihen der Humboldt-Mitarbeiter ist die Rede. Denn die Virus-Mutation, die die Berliner Großklinik lähmt, wirft bange Fragen für den weiteren Kampf gegen die Pandemie auf. Wie gefährlich ist die Variante B.1.1.7 von SARS-CoV-2 wirklich? Wirken die neuen Impfstoffe überhaupt dagegen? Und was bedeutet das alles für die bisherigen Strategien gegen Corona? Befriedigende Antworten darauf gibt es noch nicht. Doch der Blick auf die britische Insel beunruhigt Ärzte, Pfleger, Patienten und Politiker zutiefst.
Die Bundesregierung ist in großer Sorge. Der wohl wichtigste Berater von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Pandemie ist ihr Parten. Helge Braun. Am Sonntag in der ARD-Sendung „Anne Will“befürchtete der Kanzleramtsminister, ein studierter Mediziner, dass die ansteckendere Variante aus Großbritannien auch in Deutschland „die Führung übernehmen“werde. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte mit Blick auf die Corona-Mutationen: „Wir haben im Hintergrund die dunkle Wolke einer sehr ernsthaften Gefahr“. Sollte sich die Virusmutante bei uns wie in anderen Ländern durchsetzen, könnten die Zahlen wieder stark in die Höhe getrieben werden. Es sei damit zu rechnen, dass Deutschland der weiteren Ausbreitung der Mutante nicht entgehen werde. Oberstes Ziel sei deshalb eine möglichst schnelle Reduzierung der Infektionszahlen. Eine Diskussion um ein früheres Ende des Lockdowns sei deshalb falsch.
Im Dezember war die CoronaMutation B.1.1.7 zum ersten Mal in der Grafschaft Kent im Süden Englands aufgetaucht. In London verbreitete sich die Variante rasend schnell. Anfang des Jahres wurden in Großbritannien täglich teils fast 70000 Neuinfektionen gemeldet, durch einen Lockdown sanken die Zahlen inzwischen, betragen aber noch immer rund 30000 Fälle pro Tag. Im Sieben-Tages-Schnitt ist die Zahl der Neuinfektionen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung etwa mehr als dreimal so hoch wie in Deutschland. Etwa 1200 Menschen sterben im Vereinigten Königreich pro Tag an oder mit Corona. Die Krankenhäuser arbeiten an der Kapazitätsgrenze oder sind bereits überlastet.
Laut Experten treten bei Viren ständig zufällige Veränderungen auf, das ist auch beim Corona-Erreger der Fall. Meist haben die Mutationen keinen Einfluss auf die Eigenschaften. Doch die britische Corona-Variante ist nach mehreren wissenschaftlichen Studien deutlich ansteckender als der bisher vorherrschende Typ. Um wie viel, ist noch umstritten. Konservativere Schätzungen gehen von einem etwa 30 Prozent höheren Ansteckungsrisiko aus, andere sehen die Gefahr um bis zu 70 Prozent höher. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach glaubt, dass B.1.1.7 so viel schneller wachse, dass es fast wie ein anderes SARS-Coronavirus zu sehen sei und spricht von der Gefahr einer „Pandemie in der Pandemie“.
Ob der neue Virustyp auch tödlicher ist, ist umstritten. Der britische Premier Boris Johnson berichtete von Hinweisen auf eine erhöhte Sterblichkeit. Doch Wissenschaftler kritisierten, dass es für solche Aussagen noch zu wenig Erkenntnisse gebe. Auch über die Eigenschaften weiterer Corona-Varianten aus Südafrika und Brasilien herrscht noch Unklarheit. Virologen weltweit elektrisiert vor allem die Frage, ob und wie gut die bisher zugelassenen Corona-Impfstoffe gegen die neuen Typen wirken. Erste Tests der Hersteller Biontech und Moderna deuten immerhin an, dass deren Vakzine auch die Mutanten in Schach halteifreund ten können. Doch für ein Aufatmen ist es wohl noch zu früh.
Für die Mitarbeiter am Humboldt-Klinikum hängt von den Antworten auf diese Fragen extrem viel ab. Das Krankenhaus ist ein Eckpfeiler der medizinischen Versorgung der ganzen Hauptstadt, arbeitet auch mit dem bekannten Universitätsklinikum Charité eng zusammen. Rund 65 000 Patienten werden hier jährlich in elf Fachabteilungen behandelt, praktisch das ganze medizinische Spektrum wird abgedeckt, von der Chirurgie über die Innere Medizin und Geburtshilfe bis zur Psychiatrie. In der Corona-Strategie der Hauptstadt hat der Standort, der zur landeseigenen VivantesGruppe gehört, bislang eine wichtige Rolle gespielt. Ein großer Teil aller Berliner Corona-Erkrankten, die
Droht eine Pandemie in der Pandemie?
Ein Teil der Mitarbeiter war bereits geimpft
stationäre Behandlung benötigten, wurde hier betreut. Auch viele schwere Fälle, die auf der Intensivstation künstlich beatmet werden mussten. Einige der Patienten sind gestorben. Unbestritten ist, dass das Humboldt-Klinikum im Laufe der vergangenen Monate viel Erfahrung und Routine im Klinikalltag unter Corona-Bedingungen sammeln konnte. Strenge Hygienemaßnahmen prägen die täglichen Abläufe. Besucher durften zuletzt nur in Ausnahmefällen in die Klinik.
Ein Teil der rund 1800 Personen starken Belegschaft wurde im klinikeigenen Impfzentrum bereits gegen Corona immunisiert. Umso größer war der Schock, so berichten Mitarbeiter, als bis zum 23. Januar zunächst 20 Fälle von Infektionen mit der rätselhaften britischen Corona-Variante aufgetreten sind. Entdeckt wurde die Mutation in der Humboldt-Klinik offenbar per Zufall bei Patienten der Inneren Medizin. Wie das Virus aus Großbritannien nach Berlin und schließlich in die Klinik kam, warum die Infektionsschutzmaßnahmen versagten, ist noch nicht ganz klar. Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) berichtet von Fällen, die mit Reisen zusammenhängen.
Bislang gab es in Deutschland kaum Tests auf die neuen Varianonsschutzmaßnahmen Doch inzwischen prüft zumindest die Bundeshauptstadt systematisch bei allen positiven CoronaTests, ob eine Mutation vorliegt. Dies geschieht mittels Erbgut-Sequenzierung im „Labor Berlin“, der größten Testeinrichtung Europas, das im Auftrag der Vivantes-Kliniken, der Charité und zahlreicher weiterer Krankenhäuser arbeitet. Gesundheitspolitiker in der Hauptstadt fürchten, dass weitere Klinikschließungen nötig sein könnten. Doch Georg Baum, Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, warnt bereits, dass dann die medizinische Versorgung in der Hauptstadt zusammenbrechen könne.
Inzwischen hat sich gezeigt, dass das neuartige Virus die HumboldtKlinik im Reinickendorfer Ortsteil Borsigwalde bereits verlassen hat. Erkrankt sind laut dem zuständigen Amtsarzt eine Angehörige und eine Nachbarin von früheren Patienten. Zwei weitere Infizierte wurden in der Vivantes-Klinik in Spandau entdeckt, offenbar besteht ein Zusammenhang mit einer Verlegung aus der Humboldt-Klinik. Daneben gibt es einige isolierte Fälle. Und auch die Charité im Bezirk Mitte, in der Nähe von Kanzleramt und Bundestag gelegen, meldet inzwischen fünf Fälle. Dort forscht Deutschlands berühmtester Virologe Christian Drosten. Dem macht insbesondere die Corona-Variante aus Großbritannien große Sorgen, wie er dem Spiegel sagte. Im schlimmsten Fall rechnet er für das Frühjahr mit bis zu 100 000 Neuinfektionen pro Tag. Noch sieht er allerdings die „einmalige Gelegenheit“, die Ausbreitung der Mutante zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen.
Doch immer öfter werden im ganzen Bundesgebiet Infektionen mit den neuen Corona-Varianten festgestellt. Berlin ist mit 35 Fällen nicht mehr Spitzenreiter in Deutschland. In Nordrhein-Westfalen wurde der Typ B.1.1.7 bereits 37 Mal nachgewiesen. In Bayern trat er bis Dienstag achtmal auf. Am Klinikum in Bayreuth wurden zudem am Dienstagabend elf Verdachtsfälle auf die englische Virusart bekannt. Die Klinik ist vorübergehend zu, mehr als 3300 Mitarbeiter außerhalb ihrer Arbeitszeiten in Quarantäne. So hat es auch in Berlin angefangen.