„Geisterspiele bedrohen die Bundesliga“
Partien ohne Fans sind für ihn wie ein großes Experiment: Sportinformatiker Martin Lames erklärt, wie ohne Zuschauer in den Stadien der Heimvorteil wegfällt – und warum die Fans gerade für den FC Augsburg so wichtig sind
Herr Lames, welche Auswirkungen haben Geisterspiele auf die Bundesliga? Martin Lames: Wir sehen ohne Zuschauer viel weniger Heimsiege als vor Corona. Die Zahl der Unentschieden ist gleich geblieben, es zeichnet sich ein massiver Trend zu Auswärtssiegen ab. Heimteams gelingt es ohne Fans nicht so oft, tabellenmäßig überlegene Gegner zu besiegen. Und Geisterspiele sind schon zu einem früheren Zeitpunkt entschieden, überraschende Wendungen kommen selten vor. Für die Sportwissenschaft ist die Corona-Krise ein großes Experiment.
Es gibt ihn also, den Heimvorteil durch Fans. Wie funktioniert der Effekt? Lames: Liegt ein Heimteam einmal gegen eine überlegene Gastmannschaft zurück, ist es ohne Publikum wahrscheinlicher als vorher, dass die Gäste gewinnen. Unterlegene Teams benötigen diese Extra-Unterstützung, um trotz der geringeren sportlichen Fähigkeiten zu gewinnen. Die Stimmung in einem Stadion kann sehr extrem werden. Sie treibt Spieler an, 110 Prozent zu geben, um eine Partie zu drehen. Ein Rückgang der Heimstärke ist in Geisterspielen besonders bei sportlich nicht so erfolgreichen Mannschaften zu erkennen.
Wie äußert sich der Heimvorteil denn bei ohnehin überlegenen Teams? Lames: Der FC Bayern gewinnt etwa gleich oft daheim wie auswärts. Bei derart starken Teams fällt der Heimvorteil kaum ins Gewicht, hier ist das Entscheidende die Netto-Leistungsfähigkeit. Darunter verstehen wir Niveau und Form einer Mannschaft. Andere Faktoren wie die Unterstützung der Fans im Stadion zahlen auf die Brutto-Leistungsfähigkeit ein.
Dürfen sich FCA-Anhänger wichtiger fühlen als etwa Bayern-Fans?
Lames: Ja, die Fans des FC Augsburg geben ihrem Verein tatsächlich mehr als die Bayernfans. Das hat aber den trivialen Grund, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit beim FC Bayern ohnehin höher ist.
Kommt es für den Heimvorteil mehr auf Menge oder Einsatz der Fans an? Lames: Es geht immer um Emotionen, die transportiert werden. Als der FCA im September zu Hause gegen Borussia Dortmund spielte, waren es nur 6000 Fans. Auch die haben für großartige Stimmung gesorgt. Dass der FC Augsburg ausgerechnet in diesem Spiel mit 2:0 gegen ein Top-Team gewann, war bemerkenswert. Es war in dieser Saison das einzige Spiel, das überhaupt vor Zuschauern stattfand. Und Spieler haben berichtet, dass Fans im Stadion der Mannschaft den letzten Kick verliehen, der für einen Sieg gegen die Stars von Borussia Dortmund nötig ist.
Gibt es auch Fälle, in denen Zuschauer ihrem Team eher schaden?
Lames: Das Augsburger Publikum steht quasi bedingungslos hinter der FCA-Mannschaft. Da wird nicht gleich böse gepfiffen, wenn es zu Fehlpässen kommt. In anderen Stadien kann man sich vorstellen, dass man in gewisser Weise verwöhnt ist und schneller ungeduldig wird. Nach meiner Beobachtung pfeifen Fans dort durchaus, wenn es mal nicht richtig läuft.
Wie stark ist der Einfluss der Fans im Stadion auf Schiedsrichter?
Lames: Man kann nachweisen, dass Schiedsrichter mit Fans im Stadion strenger mit der Gastmannschaft sind. Das hören die Unparteiischen zwar nicht gern, aber wenn vor ausverkauftem Haus und unter Höllenlärm von den Rängen ein Heimspieler auf dem Boden liegt, wird die Karte gegen die Gäste offensichtlich etwas schneller gezogen. Schiedsrichter müssen in Sekundenbruchteilen die Schwere eines Fouls bewerten. Natürlich wirken da auch Emotionen auf sie.
Ist Fußball ohne Zuschauer gerechter? Lames: Ja, sicher – dann, wenn es um Schiedsrichter-Entscheidungen geht. In Spielen vor Publikum werden diese von Fans mitbeeinflusst. Auch wenn es um Brutto- und Netto-Leistungsfähigkeit geht, sind Geisterspiele gerecht. Denn ohne Zuschauer gewinnt häufig das Team mit großem Budget und teuren Spielern. Das sehe ich persönlich aber als große Bedrohung für die Bundesliga. Schon jetzt gewinnen besonders oft reiche Vereine. Was die finanziellen Unterschiede in der Liga betrifft, sind fehlende Zuschauer fatal, denn Geisterspiele verstärken diese Ungleichheiten nur noch zusätzlich.
Der Heimvorteil kann also finanzielle Unterschiede ausgleichen.
Lames: Genau, außerdem lebt Fußball von Spannung, Unterhaltungswert und Spielausgängen, mit denen keiner rechnet. Daraus speist sich die Emotionalität. Und die wünscht sich jeder Fußball-Fan. In Großbritannien gibt es mittlerweile TV-Sender, die Stimmungs-DJs beauftragen, den Sound der Fans künstlich einzuspielen. Hier hat sich das nicht durchgesetzt, da sind Spiele total nüchterne Ereignisse. Normalerweise steht die Bude Kopf, wenn ein Tor fällt, jetzt ist da nur noch Gestängegeklapper.
Rechnen Sie damit, dass es in dieser Saison noch mal Fans in den Stadien geben wird?
Lames: Wenn Inzidenzwerte sinken, wird es sicherlich Debatten über Lockerungen geben. Ich warne allerdings davor, Fans nur in einzelnen Regionen zuzulassen. Es ist nachgewiesen, wie Fans ihr Heimteam stärken, diesen Zusammenhang können wir in der Sportwissenschaft als etabliert betrachten. Und es wäre sehr ungerecht und für die Bundesliga ungünstig, wenn einzelne Mannschaften von laxen Corona-Regeln profitieren. Für eine etwaige Öffnung der Stadien für Zuschauer muss eine solidarische und einheitliche Lösung für die gesamte Bundesliga her.