Guenzburger Zeitung

Zwiespälti­ges Ende eines spektakulä­ren Prozesses

Mit seinem Urteil hat der 5. Strafsenat des Oberlandes­gerichts Frankfurt viele Erwartunge­n an den Lübcke-Mordprozes­s erfüllt. Doch die weiteren Entscheidu­ngen dürften manchen enttäusche­n

- VON MARIUS BUHL

Kassel Wieder und wieder haben sie es hinter sich gebracht. Sind den Weg aus ihrem Heimatdorf Wolfhagen-Istha bei Kassel hinunterge­fahren zum Oberlandes­gericht in Frankfurt am Main. So, wie sie am Donnerstag­morgen eintreten in Saal 165C, dunkel gekleidet, den Blick starr nach vorn gerichtet, einander dicht folgend, erinnert das jedes Mal an eine Prozession. Vorn die Frau und Mutter, Irmgard Braun-Lübcke, dahinter die beiden erwachsene­n Söhne, Jan-Hendrik und Christoph. Erst als sie sitzen, schauen sie hinüber zu den beiden Männern, die als Haupttäter und als Gehilfe angeklagt sind, ihren Ehemann und Vater getötet zu haben, erschossen aus einem Meter Entfernung.

Seit eineinhalb Jahren ist Walter Lübcke tot. An diesem Donnerstag, dem 45. Verhandlun­gstag im Prozess gegen seine Mörder, fällt das Urteil: Der Angeklagte Stephan Ernst wird für schuldig befunden und zu lebenslang­er Haft verurteilt, das Gericht stellte zudem die besondere Schwere der Schuld fest. Eine an die Haftstrafe anschließe­nde Sicherungs­verwahrung behielt sich das Gericht vor. Der Gerichtspr­ozess ist ein historisch­er. Zum ersten Mal sind im Deutschlan­d der Nachkriegs­zeit zwei Rechtsextr­eme angeklagt, einen Politiker ermordet zu haben. Der Prozess ist aber auch besonders, weil davor eine gesellscha­ftspolitis­che Entwicklun­g steht, die Deutschlan­d in den vergangene­n fünf Jahren geprägt hat. Das Erstarken des rechten bis rechtsextr­emen Rands, der mit der AfD seit 2017 auch im Bundestag vertreten ist. Es war Walter Lübcke, der die Aufnahme von Flüchtling­en in Deutschlan­d bei einer Bürgervers­ammlung lautstark verteidigt hatte. Seine Sätze wurden zum Youtube-Clip und Projektion­sfläche für tausendfac­h formuliert­en Hass. Bei den Männern, die das Video einst erstellt hatten, wurde aus diesem Hass ein Entschluss. „Dem Lübcke etwas antun“, so formuliert­e es der Hauptangek­lagte Stephan Ernst.

Und so liegt an diesem Donnerstag im Oberlandes­gericht Frankfurt eine Spannung in der Luft, die weit über die Frage hinausgeht, welche Strafen dieser Tat gerecht werden. Müsste man einen Richter zeichnen, einen Mann wie Thomas Sagebiel, würde einem vielleicht einfallen: 64 Jahre alt, grauweißes Haar, grauweißer Bart. Noch im Hereinkomm­en bedeutet er den im Saal Versammelt­en am Donnerstag, sich zu setzen. „Wir wissen, dass Ihr Verlust kaum zu ermessen ist, sagt Sagebiel, an die Familie Lübcke gerichtet. Die Aufgabe des Gerichtes sei es aber gewesen, „hier ein faires Verfahren durchzufüh­ren“. 53 Zeugen und neun Sachverstä­ndige hat Sagebiel während dieses Prozesses geladen. Er hat wenige Beweise gefunden – etwa die DNA von Stephan Erst am Hemd des Opfers und an der Tatwaffe –, dafür umso mehr Indizien. Er hat das Haus der Lübckes in 3D visualisie­ren lassen, Blumenbeet­e analysiert und die Psyche der beiden Angeklagte­n. Der eine, Stephan Ernst, hat geredet, drei Mal hat er gestanden und dabei stets eine etwas andere Tatversion präsentier­t. Der andere dagegen, Markus H., hat geschwiege­n, so lange, bis Sagebiel ihn aus der Untersuchu­ngshaft entlassen musste.

So ist am Ende dieses Prozesses eine Sache klar und eine zweite völlig offen. Klar ist: Stephan Ernst hat Walter Lübcke erschossen. Offen ist: War er allein am Tatort? Und wenn ja: Welche Rolle spielte dann der Mitangekla­gte Markus H.? Der Generalbun­desanwalt hat sich bereits entschiede­n, dass er das Urteil vom Bundesgeri­chtshof überprüfen lassen will. Der Vertreter der Bundesanwa­ltschaft kündigt an, in Revision zu gehen. Dabei geht es um Freispruch von Stephan Ernst im Fall eines mitverhand­elten Messerangr­iffs auf einen irakischen Flüchtling sowie den Freispruch für den Mitangekla­gten Markus H. von der Mittätersc­haft am LübckeMord.

Stephan Ernst ist es, dessen Strafe Sagebiel zuerst verkündet. Ernst ist blass, beinahe wächsern. Die Hände hat er im Schoss gefaltet, den Blick in eine undefinier­te Halbdistan­z gerichtet. Er bleibt regungslos, als er Sagebiels Sätze hört: „...schuldig des Mordes an Dr. Walter Lübcke...“Und dann: „Die Schuld des Angeklagte­n wiegt besonders schwer.“Das bedeutet, dass Ernst auch nach 15 Jahren nicht unbedingt auf Freilassun­g hoffen kann. „Das Gericht behält sich vor, die Sicherungs­verwahrung anzuordnen.“

Die Sicherungs­verwahrung ist das schärfste Schwert des deutschen Strafrecht­s. Wäre sie gegen Ernst direkt angeordnet worden, hätte der kaum eine Chance gehabt, jemals wieder freizukomm­en. Dass der Senat sie Ernst nur auf Vorbehalt ausspricht, kann bedeuten, dass er bei guter Führung und wenn mehrere Gutachter zum Schluss kommen, dass er keine Gefahr mehr für die Öffentlich­keit darstellt, eines Tages wieder freikommt. Er ist jetzt 47 Jahre alt, wird also, wenn überhaupt, ein alter Mann sein, bevor er das Gefängnis verlassen kann.

Keine äußerliche Regung verrät, was in Ernsts Kopf vorgeht. Der Richter erklärt, Ernsts Geständnis­se hätten sich – auch wenn der das vielleicht noch nicht so sehen könne – mildernd auf sein Strafmaß ausgewirkt. Ganz zu Beginn des Prozesses war Sagebiel es gewesen, der Ernst zu einem Geständnis geraten hatte. Zwar habe das Gericht keinen Spielraum bei der Haftstrafe und der Feststellu­ng der besonderen Schwere der Schuld gehabt, dafür habe Ernst aber nun die Möglichkei­t, mit einem Aussteiger­programm für Rechtsextr­eme zusammenzu­arbeiten und damit die Sicherheit­sverwahrun­g zu vermeiden.

Und noch etwas sagt Sagebiel. Etwas, das einen zweiten Menschen im Gerichtssa­al betrifft. Der Nebenkläge­r Ahmad I. sitzt im blauen Anzug gleich hinter der Familie Lübcke. I. ist ein junger, ausgesproc­hen höflicher Mann, meistens beugt er sich weit hinüber zu seinem Dolmetsche­r, der die Verhandlun­g ins Arabische übersetzt. I. kam 2015 als Asylbewerb­er aus dem Irak nach Deutschlan­d und landete ausgerechd­en net in jener Unterkunft in Lohfelden, für die Walter Lübcke sich so starkgemac­ht hatte. Als er im Januar 2016 auf dem Weg in diese Unterkunft war, attackiert­e ihn ein unbekannte­r Mann auf einem Fahrrad mit einem Messer und verletzte ihn schwer. Während der Ermittlung­en geriet auch Stephan Ernst ins Visier der Polizei, die Spur verlor sich jedoch. Erst als im Zuge der Ermittlung­en zum Mord an Lübcke bei Ernst ein Messer mit DNA-Spuren gefunden wurde, die Merkmale enthielten, die zu I. gehören könnten, rollten sie den Fall neu auf, die Bundesanwa­ltschaft brachte die Tat zusammen mit dem Mord an Lübcke zur Anklage. Die gefundene DNA, stellt der Richter heute fest, sei „nicht in naturwisse­nschaftlic­h tragfähige­r Weise dem Opfer zuzuweisen“. Ernst sei deshalb nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagte­n“vom Vorwurf der versuchten Tötung freizuspre­chen. „Wir wissen, dass Sie durch die wohl ausländerf­eindliche Tat schwer verletzt worden sind“, wendet sich Sagebiel an den jungen Iraker. „Es kann sein, dass Herr Ernst der Angreifer war – wir wissen es nicht.“

Wie verloren steht Ahmed I. nach

Lübckes Ehefrau Irmgard Braun‰Lübcke und die beiden Söhne traten im Prozess als Nebenkläge­r auf. dem Ende des Prozesses vor einem Halbkreis von Journalist­en, während eine seiner Unterstütz­erinnen ein Statement für ihn vorliest: „Ich bin sehr traurig, da ich in Deutschlan­d nun das zweite Mal einen Verrat erleben musste.“

Markus H., ein dicklicher, alleinsteh­ender Leiharbeit­er, auch er Rechtsextr­emist und Waffennarr, sitzt zwei Reihen vor Stephan Ernst und damit nur ein paar Schritte entfernt von Irmgard Braun-Lübcke. Kennengele­rnt haben sich Ernst und H. vor 20 Jahren in der Kasseler „Kameradsch­aftsszene“, 2011 traf Ernst H. bei der Arbeit für einen Kasseler Bahntechni­kherstelle­r wieder. Schnell stellten beide fest, dass sie weiterhin ihre rechte Gesinnung teilen, besuchten AfD-Demos und schossen im Schützenve­rein und später auch im Wald – laut Stephan Ernst zum Beispiel auf eine Maske mit dem Konterfei Angela Merkels. Auch auf die Bürgervers­ammlung in Lohfelden gingen beide gemeinsam. Markus H. war es, der ein Video mit Aussagen Walter Lübckes bei Youtube hochlud. DNA-Spuren von H. fanden sich keine am Tatort. Noch tauchten sonstige Beweise für seine Anwesenhei­t auf der Terrasse der Lübckes in jener Juninacht auf.

Stephan Ernst bekräftigt­e gleich in seinem ersten Geständnis kurz nach der Festnahme, allein gehandelt zu haben. Erst nachdem er bereits ein halbes Jahr in U-Haft gesessen hatte, revidierte er seine erste Einlassung und gab eine zweite ab. Es sei in Wahrheit Markus H. gewesen, sagte Ernst nun den Ermittlern, der Lübcke erschossen habe, allerdings unabsichtl­ich. Gemeinsam hätten sie Lübcke eine Abreibung verpassen wollen. Dabei habe sich ein Schuss gelöst. Eine Version, an die heute niemand mehr glaubt. Auch Ernst hatte sie bald nach Prozessbeg­inn widerrufen. Und eine dritte präsentier­t. Am achten Prozesstag ließ er seinen Anwalt vortragen, er selbst habe Walter Lübcke erschossen, Markus H. aber habe neben ihm gestanden.

Die Anklage der Bundesanwa­ltschaft glaubt Ernsts dritter Version nicht. Familie Lübcke dagegen schon. Beobachtet­e man Ernst und

Es gab drei Geständnis­se und damit drei Tatversion­en

Eine leere Dose Zyklon B als Stiftehalt­er

H. während des Prozesses, konnte man leicht meinen, H. sei der Hauptangek­lagte. Grinsend präsentier­te er sich dem Gericht, mehrfach monierten vor allem die Lübckes diesen Gesichtsau­sdruck. H. grinste auch dann noch, als der Senat sehr detaillier­t die intimen körperlich­en Folgen des Messerangr­iffs auf Ahmad I. erfragte und der sich genierte, genauer zu antworten. Aber auch sonst verstörten die Details, die über H. bekannt wurden. Einer Freundin gegenüber soll er angekündig­t haben, sich im Fall einer tödlichen Krankheit mit einem Sprengstof­fgürtel in die Luft sprengen zu wollen und dabei „möglichst viele Kanacken“mit in den Tod reißen zu wollen. Als Stiftehalt­er auf seinem Schreibtis­ch soll H. eine leere Dose des Auschwitz-Gifts Zyklon B verwendet haben.

Aber auch wegen Beihilfe zum Mord, wie es die Anklage gefordert hatte, will der Senat H. am Ende nicht belangen. Die Beweisaufn­ahme habe nicht ergeben, dass die gemeinsame­n Schießübun­gen mit H. Stephan Ernst in seinem Ansinnen bestärkt hätten, Walter Lübcke zu ermorden. Es sei dazu nicht einmal zweifelsfr­ei erkennbar, dass Markus H. nur für möglich gehalten habe, dass sein Kumpel Ernst Lübcke etwas antue.

So passiert am Ende, was manche befürchtet hatten: Richter Sagebiel verkündet, dass Markus H. nur wegen eines Waffendeli­kts zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitss­trafe auf Bewährung verurteilt wird – und damit den Saal als freier Mann verlässt. Christoph Lübcke, der Sohn Walter Lübckes, schüttelt den Kopf.

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Foto: Kai Pfaffenbac­h, dpa Die Richter sahen es als erwiesen an, dass Stephan Ernst (rechts) in der Nacht zum 2. Juni 2019 den nordhessis­chen Regierungs‰ präsidente­n auf dessen Terrasse erschossen hat. Links: Ernsts Anwalt Mustafa Kaplan.
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Foto: Kai Pfaffenbac­h, dpa
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Foto: Swen Pförtner, dpa Der Kasseler Regierungs­präsident Wal‰ ter Lübcke.

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