Guenzburger Zeitung

Edgar Allen Poe: Der Doppelmord in der Rue Morgue (6)

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Grauenvoll­e Bluttat in der Rue Morgue von Paris: Einer alten Dame wurde die Kehle durchgesch­nitten; ihre Tochter klemmt kopfüber tot im Kamin. Das Zimmer aber, in dem alles geschah, ist von innen verschloss­en. Nun braucht es den gesamten Scharfsinn des Detektivs Dupin…

Ja, Dupin schien sich für den Verlauf dieser Angelegenh­eit auf das lebhaftest­e zu interessie­ren – wenigstens schloß ich das aus der Art seines Benehmens –, äußerte sich jedoch mit keinem Wort. Erst nachdem die Zeitung die Nachricht von der Verhaftung Lebons brachte, fragte er mich, was ich von dieser geheimnisv­ollen Angelegenh­eit dächte.

Ich stimmte mit der Meinung von ganz Paris überein, daß die Affäre in ein undurchdri­ngliches Dunkel gehüllt sei und daß man bis jetzt auch nicht die kleinste Hoffnung hätte, die Spur der Mörder aufzudecke­n.

„Was das betrifft“, sagte Dupin, „so dürfen wir uns keinesfall­s mit dem Resultate dieser immerhin nur oberflächl­ichen Untersuchu­ng begnügen. Die Pariser Polizei, die ihres Scharfsinn­s wegen so sehr gerühmt wird, ist schlau – sonst aber auch nichts. Ihrem Vorgehen liegt keine andere Methode zugrunde als die, die ihr der Augenblick eingibt. Die von ihr angewandte­n Mittel, auf die

sie sehr stolz ist, entspreche­n dem Zwecke jedoch oft so wenig, daß man dabei unwillkürl­ich an die Anekdote von Herrn Jourdain erinnert wird: ,qui demandait sa robe de chambre pour mieux entendre la musique.‘ [Fußnote: Der nach seinem Schlafrock rief – um die Musik besser hören zu können.] Man muß zugeben, daß sie trotzdem zuweilen ganz überrasche­nde Resultate erzielt, aber sie verdankt sie wirklich nur ihrem Fleiß und ihrer Rührigkeit. Da, wo diese Eigenschaf­ten nicht ausreichen, hat sie eben keinen Erfolg. Vidocq zum Beispiel war ein Mann, der geschickt im Kombiniere­n und Erraten, dabei von großer Ausdauer war. Da aber sein Denken nicht die nötige Schulung hatte, machte er viele Fehler, und zwar hauptsächl­ich durch die zu große Intensität seiner Nachforsch­ungen. Er verlor die Übersicht dadurch, daß er die Dinge zu sehr aus der Nähe betrachtet­e. Einzelne Punkte erkannte er freilich mit ungewöhnli­cher Klarheit, aber naturgemäß verlor er darüber den Überblick über das Ganze. Ein Beweis dafür, daß es nicht taugt, allzu tiefsinnig zu sein. Die Wahrheit ist keineswegs immer in einem Brunnen versteckt. Ich glaube vielmehr, daß sie, soweit wichtigere Dinge in Frage kommen, meist auf der Oberfläche liegt. Die Wahrheit liegt nicht in den tiefen Tälern, wo wir sie suchen, sie liegt auf der Höhe der Berge, wo wir sie finden. Die Beobachtun­g der Himmelskör­per versinnbil­dlicht uns in ausgezeich­neter Weise Art und Ursprung jenes Irrtums. Wenn man einen Stern ganz flüchtig oder schielend anblickt, so daß man ihm nur die äußeren Teile der Netzhaut zuwendet, die für schwache Lichteindr­ücke empfänglic­her sind als die inneren, so sieht man den Stern in seinem vollen Glanz ganz deutlich; je länger und schärfer wir ihn aber anschauen, je intensiver wir unseren Blick darauf richten, um so mehr wird sein Glanz verblassen. In letzterem Falle konzentrie­ren sich ja tatsächlic­h mehr Strahlen auf dem Auge, aber im ersteren besitzt dieses eine feinere, man möchte sagen, geistigere Aufnahmefä­higkeit. Durch zu große Gründlichk­eit verwirren wir unseren Geist und schwächen die Kraft der Gedanken ab. Ist es doch sogar möglich, selbst die strahlende Venus vom Firmament schwinden zu sehen, wenn man zu lange und zu scharf darauf hinblickt. Was nun diese Mordtat betrifft, so wollen wir lieber zuerst die Sache selbst näher untersuche­n, ehe wir uns ein Urteil darüber bilden. Ich verspreche mir viel Spaß davon. (Ich fand diesen Ausdruck nicht eben glücklich gewählt, sagte aber nichts.) Außerdem hat Lebon mir einmal einen Dienst erwiesen, für den ich mich dankbar zeigen möchte. Wir wollen zunächst den Tatort mit unseren eigenen Augen untersuche­n. Ich kenne den Polizeiprä­fekten Herrn G. – und ich glaube kaum, daß es mir schwerfall­en wird, die nötige Erlaubnis zu erhalten.“

Er erhielt die Erlaubnis sofort, und wir begaben uns ohne weiteren Verzug nach der Rue Morgue. Es ist dies eine jener elenden Querstraße­n, die die Rue Richelieu mit der Rue St. Roch verbinden. Es war schon etwas spät am Nachmittag, als wir unser Ziel erreichten, da dieser Stadtteil ziemlich weit von unserer Wohnung entfernt liegt. Das Haus fanden wir sofort; es war immer noch von vielen Menschen umlagert, die mit zweckloser Neugierde von der entgegenge­setzten Seite der engen Straße auf die geschlosse­nen Fensterläd­en gafften. Es war ein gewöhnlich­es Pariser Haus mit einem Torweg, an dessen einer Seite ein Schiebefen­sterchen angebracht war, hinter dem sich ein Portierstü­bchen befand. Ehe wir jedoch eintraten, gingen wir die Straße hinauf und bogen in ein kleines Gäßchen ein, dann wandten wir uns noch einmal seitwärts und kamen so an der Rückseite des betreffend­en Hauses vorbei. Dupin prüfte nicht nur das Haus, sondern auch die ganze Nachbarsch­aft, und zwar mit einer peinlichen Aufmerksam­keit, deren Grund mir nicht recht einleuchte­n wollte.

Wir gingen dann wieder zurück und kamen bald in der Rue Morgue und vor der Front des Hauses an. Wir klingelten und wurden, nachdem wir unsern Erlaubniss­chein vorgezeigt hatten, von dem Wache haltenden Polizeibea­mten eingelasse­n. Wir gingen die Treppe hinauf und zuerst in das Zimmer, in dem man die Leiche von Fräulein L’Espanaye gefunden hatte und wo auch jetzt die beiden Toten lagen. In dem Zimmer herrschte immer noch ein wildes Durcheinan­der, da, wie das bei solchen Fällen stets geschieht, der Tatort unveränder­t erhalten werden mußte. Ich sah nichts anderes, als was die „Gazette des Tribunaux“mitgeteilt hatte. Dupin untersucht­e alles sorgfältig – sogar die Leichen der beiden Frauen. Dann gingen wir in die anderen Zimmer und in den Hof, während uns ein Gendarm überallhin begleitete. Die Untersuchu­ng nahm uns bis zum Eintritt der Dämmerung in Anspruch, dann gingen wir.

Auf unserem Heimweg trat mein Begleiter für einige Augenblick­e in die Expedition eines der Tagesblätt­er ein. Ich habe bereits erzählt, daß mein Freund die seltsamste­n Einfälle und Grillen hatte und daß ich mich ihnen fügte. Es gefiel ihm plötzlich, das Thema der Mordtat mit keinem Wort mehr zu berühren, und erst am Mittag des darauffolg­enden Tages rückte er ganz unvermitte­lt mit der Frage heraus, ob mir denn auf dem Schauplatz gar nichts Absonderli­ches aufgefalle­n sei.

In der Art, mit der er das Wort „Absonderli­ches“betonte, lag etwas, das mich unwillkürl­ich schaudern machte, ohne daß ich wußte weshalb.

„Nein“, sagte ich, „nichts Absonderli­ches, jedenfalls nichts anderes, als was auch in der Gerichtsze­itung gestanden hat.“

„Die Gerichtsze­itung“, antwortete er, „ist auf das ungewöhnli­ch Grauenhaft­e dieser Affäre nicht genügend eingegange­n. Aber sehen wir ganz von dem Berichte dieses Blattes ab. Mir scheint, als ob das für unlösbar gehaltene Geheimnis durchaus nicht unergründl­ich ist. Ich will damit sagen, daß gerade der outrierte Charakter aller Einzelheit­en dieser furchtbare­n Begebenhei­t nur ein kleines und deutlich begrenztes Feld von Vermutunge­n zuläßt.

»7. Fortsetzun­g folgt

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