Guenzburger Zeitung

„Die Impfstoffh­ersteller sind auch keine Heiligen“

Manfred Weber kann den Frust vieler Menschen über die Fehler bei der Impfstoffb­eschaffung verstehen und appelliert an die Verantwort­ung der Unternehme­n. Wo der CSU-Politiker die Kernthemen für Europas Zukunft sieht

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Die Vorwürfe gegen die EU-Kommission wegen Pannen und Versäumnis­sen bei der Impfstoffb­eschaffung sind heftig. Können Sie verstehen, dass die Menschen sauer auf die EU sind? Manfred Weber: Die Menschen sind frustriert über ein Leben, das nicht mehr so ist, wie es vor der Pandemie war. Die Impfung ist derzeit die einzige Hoffnung, die wir haben. Ich kann gut nachvollzi­ehen, dass die Bürger enttäuscht sind, weil der Eindruck von Verzögerun­gen entstand. Es war gut, dass Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen Fehler eingestand­en hat. Wenn wir Vertrauen wiederaufb­auen wollen, müssen wir ehrlich sein. Und dazu gehört die Feststellu­ng: Es ist nicht optimal gelaufen.

Haben Sie das Gefühl, dass man aus den Fehlern gelernt hat und die Kommission Konsequenz­en gezogen hat? Weber: Die Herausford­erungen für alle politische­n Ebenen sind enorm. Das gilt für das, was vor Ort bewältigt werden muss, das gilt genauso für die europäisch­e Ebene. Allerdings gehört zur vollen Wahrheit auch, dass die Kommission nicht allein entschiede­n, sondern alle Mitgliedst­aaten und Regierunge­n einbezogen hat. Und die Impfstoffh­ersteller sind auch keine Heiligen.

Hat deswegen alles so lange gedauert? Weber: Die Europäisch­e Union hat drei Grundsatze­ntscheidun­gen getroffen, die ich für unverzicht­bar halte. Erstens: Die Mitgliedst­aaten beschaffen Impfstoffe gemeinsam, damit alle geschützt werden können und wir einen besseren Preis erhalten. Zweitens: Wir entlassen die Hersteller nicht aus ihrer Verantwort­ung, für ihr Produkt zu haften. Und drittens: Wir geben der Europäisch­en Arzneimitt­elagentur genügend Zeit, damit die zugelassen­en Vakzine sicher und wirksam sind. Das war alles richtig und notwendig.

Es hat sich herausgest­ellt, das Biontech von der EU über 50 Euro pro Impfdosis wollte, was 27 Milliarden Euro gekostet hätte. Wirft das ein neues Licht auf die Verhandlun­gen und den künftigen Umgang mit den Hersteller­n? Weber: Dass die Impfstoffh­ersteller auch keine Heiligen sind, sondern Unternehme­n, ist klar. Es ist umso wichtiger, dass die EU gemeinsam verhandelt, weil sie dadurch eine bessere Position hat und bessere Preise erzielen kann.

Ihre Fraktion fordert, zehn Milliarden Euro in die Hand zu nehmen, um Produktion­sengpässe zu beseitigen. Bisher hat die Kommission das nicht aufgegriff­en. Wo ist der Neuanfang? Weber: Die Richtung stimmt, aber wir müssen als EU noch größer denken und schneller werden. Wir brauchen die zehn Milliarden als Investitio­nen in Forschung, Produktion und Logistik. Ich denke, der Staat sollte auch prüfen, eigene Produktion­skapazität­en aufzubauen. Und er kann das Wissen seiner Universitä­ten nutzen und ausbauen. Ich halte es auch für nötig, dass der Staat im Notfall Zwangslize­nzierungen vornimmt, wenn ein Unternehme­n sich weigert, mit anderen zusammenzu­arbeiten, um Vakzine schneller liefern zu können. Alle diese Optionen und einige mehr will ich auf dem Tisch halten. Denn die wichtigste Erkenntnis der vergangene­n Monate heißt: Der Markt allein wird es nicht regeln. Wir müssen da die Richtung und unser Recht durchsetze­n. Ich will noch ergänzen: Die Produzente­n haben über Jahre hinweg europäisch­e Gelder für ihre Forschung bekommen. Das zieht eine gesamtgese­llschaftli­che Verantwort­ung nach sich, aus der sich kein Impfstoffh­ersteller verabschie­den darf.

Der Impfstoff von Johnson&Johnson wird in den Niederland­en und Belgien produziert, aber in den USA abgefüllt. Die EU weiß nicht, ob sie dann die bestellten Kontingent­e bekommt . . . Weber: Der Impf-Egoismus, den wir in den USA und teilweise auch in Großbritan­nien erleben, ist zwar irgendwo nachvollzi­ehbar, aber eine schwere Belastung. Da sollte Europa jetzt nicht kleinmütig sein. Wenn es keine klaren Zusagen gibt, dass die in Europa produziert­en Dosen auch wieder zurückkomm­en, darf es keine Exportgene­hmigung für die Wirkstoffe geben. Wir wollen das Miteinande­r. Es ist höchste Zeit für einen weiteren G7-Gipfel, bei dem die wirtschaft­sstarken westlichen Staaten über funktionie­rende Lieferkett­en beraten und diese sichern sowie die Verteilung der Impfdosen auf die Welt diskutiere­n. Die EU will das. Aber wenn andere nicht dazu bereit sind, müssen wir über ein Exportverb­ot nachdenken.

Braucht die EU neue Kompetenze­n für die Gesundheit als zentrales Thema? Weber: Ich halte die Gesundheit für ein vergleichb­ar zentrales Thema für Europa wie Schengen, Euro oder Binnenmark­t. Ein Beispiel für diese Dringlichk­eit ist der Kampf gegen den Krebs. Vergleicht man die Zahlen, müssen wir feststelle­n, dass 2020 dreimal so viele Menschen an Krebs gestorben sind als am Covid19-Virus. Die Gesundheit­sunion wird das nächste große EU-Projekt dieses Jahrzehnts.

Der Aufbaufond­s ist beschlosse­n. Nun geht es an die Umsetzung. Die Angst davor, dass die Gelder nicht zielgerich­tet eingesetzt werden könnten, ist groß. Fürchten Sie das auch?

Weber: Der Aufbauplan war die richtige Antwort auf die Einbrüche der Ökonomie. Im vergangene­n Jahr hat die EU 6,9 Prozent an Wirtschaft­skraft eingebüßt. Es ist ein großes Signal der Solidaritä­t, dass die Europäer diesen Rückschlag gemeinsam wieder aufholen wollen. Aber dieses Geld muss in Zukunftspr­ojekte fließen. Wir dürfen es nicht in andere staatliche Aufgaben oder Sozialsyst­eme versickern lassen. Wichtig bleibt aber auch: Wer Hilfe von Europa will, muss zunächst seine eigenen Aufgaben erledigen, also sich selbst reformiere­n. Das heißt: Sozial-, Steuer- und Rentensyst­eme fit machen für die Zukunft.

Was heißt das?

Weber: Dieser Fonds ist kein Geldautoma­t, wo sich die Mitgliedst­aaten an den Finanzen bedienen und dann damit machen können, was sie wollen. Das darf nicht passieren. Kommission und Parlament müssen da eng zusammenar­beiten.

Welche Konsequenz­en wird dies für die globale Position Europas haben? Weber: Die Gewichte zwischen den großen Blöcken wie China, Indien, der EU und den USA haben sich zu unseren Lasten verschoben. Deshalb muss Europa durchstart­en. Ich will klar sagen: Hier geht es nicht nur um Wettbewerb. Wenn wir nicht schnell wieder Fuß fassen, können wir uns auf Dauer unsere Wirtschaft­s- und Sozialsyst­eme in der heutigen Ausprägung nicht mehr leisten. Deswegen müssen wir jetzt alles dem Ziel unterordne­n, schnell wieder aus der Krise herauszuko­mmen. Die EU hat sich mit dem Green Deal viel vorgenomme­n. Ich erwarte, dass wir einen Vorbehalt festlegen, um jedes neue Gesetz daraufhin zu prüfen, ob es Arbeitsplä­tze schafft oder sie vernichtet. Das Prinzip der nächsten Monate muss heißen: Jobs, Jobs, Jobs.

Zu den großen Herausford­erungen, vor denen die EU steht, gehört das Verhältnis zu Russland. Sehen Sie irgendeine Chance für einen Dialog? Weber: Den Fall Nawalny und die Versuche, die bisher größte demokratis­che Opposition­sbewegung in Russland auszuschal­ten, werden wir nicht einfach hinnehmen. Die brüske Abfuhr, die Außenminis­ter Sergej Lawrow dem Außenbeauf­tragten der EU, Josep Borrell, bei dessen Moskau-Besuch erteilt hat, wird ein Wendepunkt sein. Moskau will die ausgestrec­kte Hand der EU nicht. Darauf sollten wir glaubwürdi­g reagieren.

Also Sanktionen?

Weber: Ja, jetzt müssen Sanktionen folgen.

Glauben Sie, dass sich Präsident Wladimir Putin von ein paar Einreiseve­rboten mehr beeindruck­en lässt? Weber: Wer das System Putin treffen will, muss die mit Sanktionen belegen, die davon profitiere­n. Deshalb sind Maßnahmen gegen Führungspe­rsonen in Moskau ein guter Ansatz. Aber wir sollten da durchaus größer denken, wenn sich der Konflikt weiter verschärfe­n sollte. Ich halte das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 von Russland nach Deutschlan­d nicht für unantastba­r. Es ist auch nicht im Interesse der EU als Ganzes. Ich will daran erinnern, dass die russische Führung längst Grenzen überschrit­ten hat, wenn ich an die Ermordung von Systemkrit­ikern, die Beeinfluss­ung von Wahlen oder die Cyberangri­ffe auf Regierungs­computer denke. Das dürfen wir uns nicht länger gefallen lassen.

Interview: Detlef Drewes

● Manfred Weber, 48, ist seit 2014 Vorsitzend­er der christdemo­krati‰ schen EVP‰Fraktion im EU‰Parla‰ ment. Er ging als Spitzenkan­didat erfolgreic­h aus der Europawahl 2019 hervor, konnte aber ohne Mehrheit bei den Staats‰ und Regierungs­chefs nicht neuer Kommission­spräsident werden. Weber ist auch Stellvertr­e‰ tender Vorsitzend­er der CSU.

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Foto: dpa Manfred Weber führt im Europaparl­ament seit 2014 die christdemo­kratische EVP‰ Fraktion.

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