„Im Herbst könnten wir Corona im Griff haben“
Der Präsident der deutschen Intensivmediziner sieht eine dritte Welle anrollen. Trotzdem ist er optimistisch – unter einer Voraussetzung
Herr Professor Marx, der Bund fördert im großen Stil die Entwicklung von Impfstoffen. Allein bei der Tübinger Firma Curevac ist er 2020 mit 300 Millionen Euro eingestiegen. Anfang Januar teilte das Bundesforschungsministerium mit, dass es mit 50 Millionen Euro die Entwicklung von Therapeutika gegen Covid-19 fördern will. Ist das aus Sicht eines Praktikers, der auf Intensivstationen am Krankenbett steht, nicht viel zu wenig?
Gernot Marx: Man muss einerseits sagen, dass die Entwicklung und Bereitstellung von Impfstoffen die alles entscheidende Maßnahme ist, um das Coronavirus in den Griff zu kriegen. Andererseits brauchen wir natürlich auch Medikamente, die gegen Corona an sich wirken, wenn es bei einem Patienten schon ausgebrochen ist. Das Virus wird uns ja bleiben. Wir brauchen Therapeutika für die postpandemische Phase.
Fordern Sie also mehr Einsatz der öffentlichen Hand in dieser Sache? Marx: Natürlich würde das Sinn ergeben. Wenn man sieht, mit welchen Summen die Impfstoffentwicklung flankiert wurde, sind die vom Bundesforschungsministerium angekündigten 50 Millionen Euro in der Tat keine sehr hohe Summe. Es würde uns aber auch nichts nützen, wenn man jetzt diesen Betrag verViel wichtiger wäre uns eine Verstetigung. Forschung braucht Geld – und eben Zeit. Insofern wären zum Beispiel 50 Millionen Euro pro Jahr in den kommenden Jahren der bessere Weg. Aber dass man mich nicht falsch versteht: Impfstoffe sind sehr wichtig. In Bezug auf unser Thema hier würde ich also sagen: Man sollte das eine tun und das andere nicht lassen.
In den vergangenen zwölf Monaten wurden viele Fortschritte, viele Erfahrungen auf den Intensivstationen gemacht. Welche Medikamente haben sich besonders bewährt?
Marx: Ganz zentral ist sicher der Einsatz des Dexamethason, das das völlige und teils tödliche Entgleisen der Immunabwehr bei einem schweren Covid-Verlauf aufhalten und abmildern kann. Das hat die Sterblichkeit erheblich gesenkt.
Was hat sich noch als gut erwiesen? Marx: Viele Covid-Patienten erleiden Thrombosen und Embolien. Durch die Gabe von altbewährten Blutgerinnungshemmern wie Heparin kann auch hier viel Schlimmes verhindert werden. Nicht hilft hingegen prophylaktisch das Einnehmen etwa von ASS 100, das man sonst nach Infarkten und Schlaganfällen zur Prophylaxe verschreibt.
Welche Medikamente sind jetzt weniger im Gespräch?
Marx: Das Virostatikum Remdesivir, eigentlich entwickelt zur Ebola-Behandlung, war ein großer Hoffnungsträger. Doch seine virusabtödoppelte. tende Wirkung ließ sich in einer großen WHO-Studie nicht nachhaltig belegen.
Was ist aktuell noch in Entwicklung? Worauf hoffen Sie?
Marx: Eine aktuelle Möglichkeit sind künstlich hergestellte Antikörper, die man sozusagen wie bei einer klassischen passiven Impfung verabreichen könnte. Ich persönlich hoffe, dass es bald sehr spezifische Wirkstoffe gibt, die konkret das Virus inaktivieren, abtöten oder an seiner Vermehrung hindern. Auch danach wird momentan noch gesucht.
Wie ist derzeit die Lage insgesamt auf den deutschen Intensivstationen? Marx: Die zweite Welle läuft noch. Viele erkrankte Patienten werden von uns noch behandelt – mit unklarem Ausgang. Insofern kann man das nicht genau sagen.
Aber gibt es leichte Entspannung? Marx: Anfang des Jahres waren noch 5800 Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt, wobei man sagen muss, dass im Schnitt immer etwa 50 bis 60 Prozent – auf den Intensivstationen – beatmet sind. Derzeit sind 3121 Intensivbetten belegt. Insofern: leichte Entspannung. Aber Sorgen bereiten uns die Mutationen – vor allem die britische Variante. Die könnte die Zahlen wieder nach oben treiben – mit einem exponentiellen Wachstum. Ich muss es klar sagen, und in dieser Woche wollen wir das noch näher debattieren: Wir gehen von einer dritten Welle aus.
Unsere Bitte lautet darum: Lassen Sie sich impfen – auch mit AstraZeneca. Wer geimpft ist, scheint keine schweren Verläufe von Covid mehr befürchten zu müssen. Das zeigen uns alle Studien. Und die beschriebenen Nebenwirkungen sollten niemanden schrecken, die sind normal. Ich habe jetzt die zweite Impfung erhalten – den Moderna-Impfstoff. Und auch ich hatte ein bis zwei Tage lang grippeartige Nebenwirkungen. Das zeigt, dass die körpereigene Immunabwehr angekurbelt wird.
Wann werden wir Covid und all seine Mutanten überwunden haben?
Marx: Wenn sich jetzt alle Menschen bald gut durchimpfen lassen, dann könnte es sein, dass wir Corona Ende des dritten Quartals 2021, also im Herbst, im Griff haben. Aber das setzt wirklich voraus, dass sich so gut wie alle impfen lassen. Sonst entstehen in der Zwischenzeit wieder neue Mutanten. Und dann wird es nichts mit einem solchen positiven Ausblick. Also: Lassen Sie sich bitte impfen. Interview: Markus Bär
Prof. Gernot Marx, 55, ist Präsident der Deutschen Vereinigung der Intensiv mediziner (Divi) und an der Uniklinik Aachen tätig.