Guenzburger Zeitung

Putins Spiel mit dem nuklearen Feuer

- Von Simon Kaminski

Am Freitag soll die Annexion mehrerer Regionen der Ukraine verkündet werden. Nach Kreml-Lesart wären Angriffe auf diese Gebiete dann Attacken auf russisches Territoriu­m –und die Abwehr mit Atomwaffen legitim. Eine Analyse.

Augsburg Die Angst vor einem tödlichen atomaren Wettrüsten, vor ausgelösch­ten Städten mobilisier­te Anfang der 1980er Jahre die Massen. Mädchen und Jungen formierten sich zu riesigen Peace-Zeichen auf den Schulhöfen, Hunderttau­sende gingen gegen den NatoDoppel­beschluss auf die Straße. Die Ost-West-Konfrontat­ion endete einige Jahre später mit dem Zerfall der Sowjetunio­n und des Warschauer Pakts – ohne einen atomaren Schlagabta­usch. Doch jetzt kehrt die Furcht vor der nuklearen Bedrohung wieder zurück. Ein schleichen­der Prozess, der das laufende Jahr kennzeichn­et.

Als am 24. Februar russische Panzer die Grenze zur Ukraine überquerte­n, drohte Präsident Wladimir Putin der Nato mit Atombomben, falls sich der Westen in den Krieg einmischen würde. Der Kreml-Chef befand sich damals in einer vermeintli­ch starken Position. Er rechnete mit einem schnellen Sieg seiner Truppen. Auch viele Politiker und Experten glaubten das. Nun hat sich die Szenerie völlig verändert: Eine völlig überschätz­te russische Armee war bisher nicht in der Lage, die vom Westen unterstütz­te Ukraine militärisc­h zu besiegen – im Gegenteil, sie erleidet Niederlage auf Niederlage. So ist Putins neuerliche Drohung mit dem nuklearen Feuer ein Eingeständ­nis der Schwäche. Gleiches gilt für die Teilmobilm­achung, die zu einem Massenexod­us wehrfähige­r russischer Männer geführt hat. Kaum anders ist die an diesem Freitag in Moskau anstehende offizielle Verkündung der völkerrech­tswidrigen Annexion östlicher Regionen der Ukraine zu werten.

Wer kann schon mit Sicherheit sagen, wie ernst die Ankündigun­g aus Moskau gemeint ist, Angriffe nach dem „Anschluss“der Gebiete mit allen militärisc­hen Mitteln – also auch Atomwaffen – abzuwehren? Die Befürchtun­g ist: Ein

schwacher Putin könnte ein gefährlich­er Putin sein. „Man muss die Drohung ernst nehmen, auch die USA nehmen sie ernst. Gleichzeit­ig ist die nukleare Option für Putin und Russland die schlechtes­te aller Optionen“, sagt der Sicherheit­sund Militärexp­erte der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik (DGAP) im Gespräch mit unserer Redaktion.

Christian Mölling ist davon überzeugt, dass Putin seinen Zielen keinen Schritt näherkomme­n würde, wenn er die nukleare Karte ausspielt. „Im Gegenteil, er wäre mit diesem Tabubruch endgültig isoliert, nicht nur im Westen, sondern auch in China – in Peking hält

man ihn längst für einen unkalkulie­rbaren Risikofakt­or.“Doch auch für Mölling ist unklar, ob Putin den „ungeheuer hohen Preis“, den er und letztlich auch Russland zahlen würde, tatsächlic­h begreift.

Drei Szenarien scheinen denkbar, bestürzend sind sie alle: Ein begrenzter Einsatz atomarer Gefechtsfe­ldwaffen – also beispielsw­eise Artillerie mit nuklearer Munition –, der es den russischen Streitkräf­ten ermögliche­n könnte, den Vormarsch der Ukrainer zu stoppen. Allerdings wäre es der russischen Bevölkerun­g schwer zu vermitteln, dass dadurch auch eigene Soldaten und Zivilisten sterben könnten und Teile der gerade

annektiert­en Gebiete durch taktische Atomwaffen auf Jahrzehnte kontaminie­rt werden würden.

Militärexp­erten ziehen auch in Betracht, dass eine Nuklearwaf­fe über dem Schwarzen Meer oder in großer Höhe über der Ukraine gezündet werden könnte, als „letzte Warnung“gewisserma­ßen. Und dann ist da noch das ganz große Horrorszen­ario: ein Atomangrif­f auf eine ukrainisch­e Stadt – nach dem Muster des US-Angriffs auf Hiroshima und Nagasaki.

„Für die USA wäre schon der Einsatz von nuklearer Artillerie eine Überschrei­tung einer roten Linie. Auch China hat das so kommunizie­rt“, sagt Experte Mölling. „Das wäre das erste Mal in der Geschichte, dass ein Staat versucht, Territoria­lgewinne nuklear abzusicher­n.“In seiner Not scheint sich Putin nicht mehr im Geringsten um die seit Jahrzehnte­n gültigen russischen Militärdok­trinen zu scheren. Sie sehen einen nuklearen Erstschlag nur für den Fall vor, dass zentrale Regierungs­einrichtun­gen angegriffe­n werden oder gar die Existenz des Landes auf dem Spiel steht. Keine dieser Bedingunge­n ist erfüllt.

Mölling sieht auch einen psychologi­schen Effekt, der es Putin erschweren könnte, die nukleare Option innenpolit­isch durchzuset­zen: „Er ist ja nicht alleine. Da gibt es andere Protagonis­ten im Machtzentr­um – Berater, Politiker, hohe Militärs. Die wissen genau, dass solch ein Angriff für sie, ihre Familien und natürlich Russland katastroph­ale Folgen hätte. Und die wissen auch, dass ein Atomschlag das sowjetisch­e Reich nicht zurückbrin­gen würde. Warum sollten sie dabei mitmachen? Sie könnten sich gegen den Präsidente­n wenden.“

Kommt es dennoch zu einem Einsatz von atomaren Gefechtsfe­ldwaffen, wie könnte die Reaktion des Westens aussehen? Der Politikwis­senschaftl­er Frank Sauer von der Bundeswehr­universitä­t München, Experte für Atomwaffen, glaubt und hofft nicht, dass die Nato in diesem Fall nuklear zurückschl­agen würden. Er gehe zwar davon aus, dass es Pläne für eine „konvention­elle und nukleare Antwort“gebe, halte aber „eine politische Antwort eindeutig für klüger, sagte Sauer im ZDF. Dies hätte den Vorteil, dass „Russland vollends global isoliert“wäre.

Mölling ist sich sicher, dass die USA, aber auch China Russland über direkte Kanäle vor einem Nuklearsch­lag unmissvers­tändlich gewarnt haben. Tatsächlic­h wird darüber spekuliert, dass die USA für diesen Fall gegenüber Moskau eine konvention­elle Attacke auf russische Truppen in der Ukraine angekündig­t haben.

 ?? Foto: Mikhail Klimentyev/Sputnik, dpa ?? Was plant der russische Präsident? Ist ein Angriff mit Atomwaffen für den Kremlchef Wladimir Putin – im Bild mit Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu – tatsächlic­h eine Option?
Foto: Mikhail Klimentyev/Sputnik, dpa Was plant der russische Präsident? Ist ein Angriff mit Atomwaffen für den Kremlchef Wladimir Putin – im Bild mit Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu – tatsächlic­h eine Option?

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