„Sie wollen keine Nestbeschmutzer“
Sieben Jahre untersuchte die Kriminologin Letizia Paoli mit ihrer Kommission die westdeutschen Dopingpraktiken an der Uni Freiburg. In einem Buch räumt sie nun mit dem Märchen auf, früher sei nur in der DDR gedopt worden.
Frau Paoli, Sie waren Vorsitzende der Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin. Frei übersetzt also Chef-Ermittlerin mit dem Auftrag, herauszufinden, wie das westdeutsche Dopingsystem an der Uni Freiburg jahrzehntelang funktioniert hat. 2016 gab die Kommission auf. Jetzt haben Sie in einem Buch (Titel: „Doping für Deutschland“) gemeinsam mit den anderen verbliebenen fünf Mitgliedern der Kommission die Erkenntnisse Ihrer Arbeit zusammengefasst. Wer es liest, bekommt den Eindruck, Sie hätten von Anfang an einen Kampf gegen Windmühlen geführt. Täuscht der Eindruck? Letizia Paoli: Nein, das war auch mein Eindruck. Mir wurde am Anfang gesagt, du wirst jetzt Vorsitzende der Kommission und das ist nur eine Arbeit von ein paar Monaten. Ich bin da ganz blauäugig herangegangen und dachte, dass ich im Auftrag und mit der Unterstützung der Universität Freiburg arbeiten würde. Im Laufe der Zeit musste ich realisieren, dass das nicht der Fall war. Deswegen habe ich viel Zeit in Verhandlungen mit der Universität verloren. Viele Dinge, die ich für selbstverständlich gehalten hatte, zum Beispiel Zeitzeugen zu interviewen oder die Machenschaften von Prof. Armin Klümper zu untersuchen, waren erst einmal nicht möglich. Man musste so viel Zeit in unnötige Kämpfe investieren, dass für die Untersuchung selbst weniger Zeit blieb. Deswegen hat das letztendlich alles so lange gedauert.
Mit dem Wissen, das Sie heute über die Kommission haben: Würden Sie es noch einmal machen?
Paoli: Nein, sicher nicht. Das Thema ist zwar superinteressant und es war wichtig, dass es eine Untersuchung gab. Aber ganz offensichtlich hatte die Universität Freiburg keinen großen Aufklärungswillen. Und vielleicht war die Universität Freiburg auch nicht der richtige Auftraggeber. Eine parlamentarische Kommission wäre wohl besser gewesen, um das Problem gründlich zu untersuchen.
Sie schreiben in dem Buch, dass auch der organisierte Sport kein großes Engagement bei der Aufklärung der Dopingstrukturen gezeigt habe. Warum ist das so?
Paoli: Weil die Sportfunktionäre und -Verbände ihren Ruf verteidigen wollen. Sie wollen keine Nestbeschmutzer
oder kritischen Stimmen. In Deutschland hatte man nach der Wiedervereinigung die Neigung, die ganze Schuld auf die DDR zu schieben. Die waren es, die Staatsdoping betrieben haben. Im Westen dagegen war im Narrativ der westdeutschen Sportfunktionäre alles picobello.
Was waren die zentralen Erkenntnisse der Kommission?
Paoli: Wir haben viele Beweise geliefert über die Rolle von Klümper im westdeutschen Dopingsystem. Es gab mindestens ein nationales Dopingsystem, das für den Radsport. Dass Klümper viele schmutzige Sachen gemacht hat, war den Experten schon vorher klar. Aber wir haben auch neues Licht geworfen auf die Rolle von Prof. Joseph Keul, dem Leiter der Freiburger Abteilung für Sportmedizin von 1974 bis zu seinem Tod im Jahr 2000. Keul war für viele Jahre der einflussreichste Sportmediziner Deutschlands. Er hat mit seinem Tun und Nicht-Tun Doping in Deutschland für viele Jahrzehnte möglich gemacht. Er war sehr vorsichtig, wenn es darum ging, selbst zur Spritze zu greifen. Aber er hat viele Dopingpraktiken, auch von seinen Mitarbeitern, geduldet. Mit seinen Beiträgen in der Presse hat er immer wieder versucht, neue und auch bekannte Mittel als nicht so gefährlich darzustellen. Er war für zwei Jahrzehnte auch Chefarzt der Olympiamannschaft. Er hat sicher gesehen, was mit vielen Athletinnen passiert ist und hat nie etwas unternommen, Anabolika-Doping bei Frauen zu stoppen. In den 1990ern hat er entschieden, dass seine Mitarbeiter Top-Athleten im Radsport betreuen. Damals war eigentlich schon jedem bekannt, dass dort viel gedopt wurde. Er wusste sicher, wohin er seine Mitarbeiter schickt. Er hat das bewusst gemacht, weil er gierig nach Geld war.
Was haben Sie noch recherchiert? Paoli: Wir haben weitere Beweise geliefert für die Duldung schädlicher Dopingpraktiken durch den organisierten Sport und auch durch die Politik. Auf Landesebene in Baden-Württemberg, aber auch auf Bundesebene. Alle Akteure hätten viel mehr machen können und müssen, um das zu stoppen.
Der alte Reflex, dass nur in der DDR gedopt wurde, hat sich bis heute in Westdeutschland gehalten – ist aber offensichtlich Unfug?
Paoli: Ja, das stimmt. Mit Ausnahme des Radsports gab es in Westdeutschland zwar kein richtiges nationales System. Es war nicht top down organisiert wie in Ostdeutschland. Aber Doping war trotzdem weit verbreitet, viele Top-Athleten haben gedopt. In Westdeutschland gab es viel Duldung dafür.
2016 mussten Sie das Handtuch werfen. Welche Fragen werden jetzt vielleicht nie beantwortet?
Paoli: Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die Arbeit der Kommission im Jahr 2016 unmöglich gemacht wurde, als wir begonnen haben, mit Verantwortlichen der Universität und wichtigen Politikern Interviews zu führen. Da wurden wir richtig gefährlich. Wir deuten es in einem der letzten Kapitel an, dass wir da sicherlich noch mehr recherchieren und finden hätten können.
Glauben Sie, dass diese Recherchen irgendwann jemand anders machen wird?
Paoli: Ich glaube nicht, dass es im Moment noch weitere Untersuchungen geben wird. Die Universität Freiburg hat schon 2014 versprochen, eine Forschungsstelle zum Thema Doping einzurichten. Diese Forschungsstelle ist nie gekommen. Im Moment hat man keine große Aufmerksamkeit für diese Themen. Vielleicht gibt es in ein paar Jahrzehnten einen Historiker, der sich damit befasst. Oder vielleicht früher, wenn ein großer Skandal im deutschen Spitzensport ausbricht.
Die ganze Geschichte ist sehr verworren. Ist das der Grund dafür, dass die Arbeit der Kommission in der Öffentlichkeit nur sporadisch wahrgenommen wurde?
Paoli: Ja, sicher. Das Problem ist komplex. Gerade in Deutschland hat man zudem die Neigung, Institutionen zu respektieren. Man kann sich kaum vorstellen, dass Politiker oder auch Universitäten derart unsaubere Dinge machen würden.
Haben Sie den Eindruck, dass es in der deutschen Gesellschaft einen Wandel im Umgang mit dem Thema Doping gibt?
Paoli: Ich glaube, dass Athleten, Sportverbände und auch Universitäten sehr viel vorsichtiger geworden sind. Ich würde behaupten, dass es momentan kaum Doping in universitären Einrichtungen gibt. Aber ich glaube auch, dass weiterhin gedopt wird. Die Leute gehen nur eben zu Gurus oder Ärzten, die außerhalb von öffentlichen Einrichtungen arbeiten. Wir brauchen dahingehend eine Veränderung der Mentalität, dass der Elitesport zu 90 Prozent – mit Ausnahme des Profi-Fußballs – mit öffentlichen Geldern finanziert wird. Meiner Meinung nach sollten viel strengere Bedingungen an diese schönen Schecks geknüpft werden. Weil der Sport auch eine Vorbild- und Erziehungsfunktion hat. Und wenn man so viele öffentliche Mittel bekommt, muss man auch Rechenschaft darüber ablegen. Das passiert meiner Meinung nach nicht, ist aber wichtiger, als einzelne Doper zu bekämpfen.
Wie bewerten Sie diesbezüglich das Antidopinggesetz?
Paoli: Das war sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung.
Aber was fehlt noch?
Paoli: Die Antwort auf die Frage: Was macht ihr mit dem vielen Geld, das wir euch geben? Im Namen des Sports tolerieren wir so viele schädliche Handlungen. Da muss man sich dann schon fragen, ob wir das mit öffentlichen Geldern finanzieren wollen.
Welche Vorgaben fordern Sie?
Paoli: Wir müssen viel mehr auf die Bedürfnisse und die physische und psychologische Integrität der jungen Menschen im Sport achten. Wir eröffnen unser Buch mit einem für mich schockierenden Zitat des ehemaligen Innen- und Sportministers Thomas de Maizière. Vor ein paar Jahren sagte dieser, dass wir eigentlich „nach der Tradition in beiden deutschen Staaten und nach unserer Wirtschaftskraft, mit der wir den Spitzensport fördern“, mehr Medaillen gewinnen müssten. Es geht doch aber um die Bedürfnisse und die Gesundheit der Menschen und nicht um irgendein Medaillenziel. Der Einzelne geht in diesem System verloren.
Ist ein sauberer Spitzensport überhaupt möglich?
Paoli: Viele Zuschauer wollen einfach Spaß haben und verstehen den Spitzensport als einen Moment der Entspannung und des Abschaltens. Dazu kommt bei internationalen Wettbewerben ein
Gefühl von Nationalstolz und Zugehörigkeit. Aber man sollte viel mehr auf die Folgen des Sports für die betroffenen Athleten achten. Die Stars bekommen die Aufmerksamkeit, aber dahinter gibt es ungleich mehr Sportler, die es versucht, aber nicht geschafft haben. Viele tragen psychische und physische Schäden davon. Deswegen müsste man den Sportverbänden viel strengere Bedingungen geben, an die das Geld geknüpft ist. Der allergrößte Teil davon geht in den Elitesport. Dabei hat der Breitensport eine viel positivere Auswirkung auf unsere Gesellschaft. Dorthin müsste viel mehr Geld aus der öffentlichen Hand fließen.
Ihr Buch ist erst jetzt, also sechs Jahre nach dem Ende der Kommission, erschienen. Wie sehr haben die Grabenkämpfe auch Sie persönlich getroffen?
Paoli: Die Jahre des Konfliktes mit der Universität waren sehr schwierig für mich. Ich habe ja weiterhin Vollzeit unterrichtet und meine drei Kinder waren noch sehr klein. Deswegen hatten meine Kollegen und ich nach dem Ende der Kommission erst einmal für ein paar Jahre keine Lust, uns mit dem Thema zu beschäftigen. Danach haben wir aber jetzt das Gefühl bekommen, dieses schwierige Projekt und diese Phase unseres Lebens mit einem Buch abzuschließen. Damit wir selbst die verworrene und fast unglaubliche Geschichte der Evaluierungskommission Freiburger Sportmedizin erzählen und die Hauptergebnisse ihrer Arbeit zusammenfassen können. Jetzt ist es an der Politik und den Sportverbänden, daraus die Schlussfolgerungen zu ziehen. Vielleicht haben sie im Moment keine große Lust dazu, aber das Buch ist jetzt da. Unsere Ergebnisse sind für alle nachzulesen.
Zur Person
Letizia Paoli, 55, stammt aus Italien und ist seit 2006 Professorin für Kriminologie an der KU Leuven in Belgien. 1997 hatte sie mit einer Arbeit über die italienische Mafia promoviert. Zusammen mit den fünf anderen verbliebenen Mitgliedern der Evaluierungskommission schrieb sie das Buch „Doping für Deutschland“. (AZ)