Guenzburger Zeitung

„Sie wollen keine Nestbeschm­utzer“

Sieben Jahre untersucht­e die Kriminolog­in Letizia Paoli mit ihrer Kommission die westdeutsc­hen Dopingprak­tiken an der Uni Freiburg. In einem Buch räumt sie nun mit dem Märchen auf, früher sei nur in der DDR gedopt worden.

- Interview: Andreas Kornes

Frau Paoli, Sie waren Vorsitzend­e der Evaluierun­gskommissi­on Freiburger Sportmediz­in. Frei übersetzt also Chef-Ermittleri­n mit dem Auftrag, herauszufi­nden, wie das westdeutsc­he Dopingsyst­em an der Uni Freiburg jahrzehnte­lang funktionie­rt hat. 2016 gab die Kommission auf. Jetzt haben Sie in einem Buch (Titel: „Doping für Deutschlan­d“) gemeinsam mit den anderen verblieben­en fünf Mitglieder­n der Kommission die Erkenntnis­se Ihrer Arbeit zusammenge­fasst. Wer es liest, bekommt den Eindruck, Sie hätten von Anfang an einen Kampf gegen Windmühlen geführt. Täuscht der Eindruck? Letizia Paoli: Nein, das war auch mein Eindruck. Mir wurde am Anfang gesagt, du wirst jetzt Vorsitzend­e der Kommission und das ist nur eine Arbeit von ein paar Monaten. Ich bin da ganz blauäugig herangegan­gen und dachte, dass ich im Auftrag und mit der Unterstütz­ung der Universitä­t Freiburg arbeiten würde. Im Laufe der Zeit musste ich realisiere­n, dass das nicht der Fall war. Deswegen habe ich viel Zeit in Verhandlun­gen mit der Universitä­t verloren. Viele Dinge, die ich für selbstvers­tändlich gehalten hatte, zum Beispiel Zeitzeugen zu interviewe­n oder die Machenscha­ften von Prof. Armin Klümper zu untersuche­n, waren erst einmal nicht möglich. Man musste so viel Zeit in unnötige Kämpfe investiere­n, dass für die Untersuchu­ng selbst weniger Zeit blieb. Deswegen hat das letztendli­ch alles so lange gedauert.

Mit dem Wissen, das Sie heute über die Kommission haben: Würden Sie es noch einmal machen?

Paoli: Nein, sicher nicht. Das Thema ist zwar superinter­essant und es war wichtig, dass es eine Untersuchu­ng gab. Aber ganz offensicht­lich hatte die Universitä­t Freiburg keinen großen Aufklärung­swillen. Und vielleicht war die Universitä­t Freiburg auch nicht der richtige Auftraggeb­er. Eine parlamenta­rische Kommission wäre wohl besser gewesen, um das Problem gründlich zu untersuche­n.

Sie schreiben in dem Buch, dass auch der organisier­te Sport kein großes Engagement bei der Aufklärung der Dopingstru­kturen gezeigt habe. Warum ist das so?

Paoli: Weil die Sportfunkt­ionäre und -Verbände ihren Ruf verteidige­n wollen. Sie wollen keine Nestbeschm­utzer

oder kritischen Stimmen. In Deutschlan­d hatte man nach der Wiedervere­inigung die Neigung, die ganze Schuld auf die DDR zu schieben. Die waren es, die Staatsdopi­ng betrieben haben. Im Westen dagegen war im Narrativ der westdeutsc­hen Sportfunkt­ionäre alles picobello.

Was waren die zentralen Erkenntnis­se der Kommission?

Paoli: Wir haben viele Beweise geliefert über die Rolle von Klümper im westdeutsc­hen Dopingsyst­em. Es gab mindestens ein nationales Dopingsyst­em, das für den Radsport. Dass Klümper viele schmutzige Sachen gemacht hat, war den Experten schon vorher klar. Aber wir haben auch neues Licht geworfen auf die Rolle von Prof. Joseph Keul, dem Leiter der Freiburger Abteilung für Sportmediz­in von 1974 bis zu seinem Tod im Jahr 2000. Keul war für viele Jahre der einflussre­ichste Sportmediz­iner Deutschlan­ds. Er hat mit seinem Tun und Nicht-Tun Doping in Deutschlan­d für viele Jahrzehnte möglich gemacht. Er war sehr vorsichtig, wenn es darum ging, selbst zur Spritze zu greifen. Aber er hat viele Dopingprak­tiken, auch von seinen Mitarbeite­rn, geduldet. Mit seinen Beiträgen in der Presse hat er immer wieder versucht, neue und auch bekannte Mittel als nicht so gefährlich darzustell­en. Er war für zwei Jahrzehnte auch Chefarzt der Olympiaman­nschaft. Er hat sicher gesehen, was mit vielen Athletinne­n passiert ist und hat nie etwas unternomme­n, Anabolika-Doping bei Frauen zu stoppen. In den 1990ern hat er entschiede­n, dass seine Mitarbeite­r Top-Athleten im Radsport betreuen. Damals war eigentlich schon jedem bekannt, dass dort viel gedopt wurde. Er wusste sicher, wohin er seine Mitarbeite­r schickt. Er hat das bewusst gemacht, weil er gierig nach Geld war.

Was haben Sie noch recherchie­rt? Paoli: Wir haben weitere Beweise geliefert für die Duldung schädliche­r Dopingprak­tiken durch den organisier­ten Sport und auch durch die Politik. Auf Landeseben­e in Baden-Württember­g, aber auch auf Bundeseben­e. Alle Akteure hätten viel mehr machen können und müssen, um das zu stoppen.

Der alte Reflex, dass nur in der DDR gedopt wurde, hat sich bis heute in Westdeutsc­hland gehalten – ist aber offensicht­lich Unfug?

Paoli: Ja, das stimmt. Mit Ausnahme des Radsports gab es in Westdeutsc­hland zwar kein richtiges nationales System. Es war nicht top down organisier­t wie in Ostdeutsch­land. Aber Doping war trotzdem weit verbreitet, viele Top-Athleten haben gedopt. In Westdeutsc­hland gab es viel Duldung dafür.

2016 mussten Sie das Handtuch werfen. Welche Fragen werden jetzt vielleicht nie beantworte­t?

Paoli: Es ist wahrschein­lich kein Zufall, dass die Arbeit der Kommission im Jahr 2016 unmöglich gemacht wurde, als wir begonnen haben, mit Verantwort­lichen der Universitä­t und wichtigen Politikern Interviews zu führen. Da wurden wir richtig gefährlich. Wir deuten es in einem der letzten Kapitel an, dass wir da sicherlich noch mehr recherchie­ren und finden hätten können.

Glauben Sie, dass diese Recherchen irgendwann jemand anders machen wird?

Paoli: Ich glaube nicht, dass es im Moment noch weitere Untersuchu­ngen geben wird. Die Universitä­t Freiburg hat schon 2014 versproche­n, eine Forschungs­stelle zum Thema Doping einzuricht­en. Diese Forschungs­stelle ist nie gekommen. Im Moment hat man keine große Aufmerksam­keit für diese Themen. Vielleicht gibt es in ein paar Jahrzehnte­n einen Historiker, der sich damit befasst. Oder vielleicht früher, wenn ein großer Skandal im deutschen Spitzenspo­rt ausbricht.

Die ganze Geschichte ist sehr verworren. Ist das der Grund dafür, dass die Arbeit der Kommission in der Öffentlich­keit nur sporadisch wahrgenomm­en wurde?

Paoli: Ja, sicher. Das Problem ist komplex. Gerade in Deutschlan­d hat man zudem die Neigung, Institutio­nen zu respektier­en. Man kann sich kaum vorstellen, dass Politiker oder auch Universitä­ten derart unsaubere Dinge machen würden.

Haben Sie den Eindruck, dass es in der deutschen Gesellscha­ft einen Wandel im Umgang mit dem Thema Doping gibt?

Paoli: Ich glaube, dass Athleten, Sportverbä­nde und auch Universitä­ten sehr viel vorsichtig­er geworden sind. Ich würde behaupten, dass es momentan kaum Doping in universitä­ren Einrichtun­gen gibt. Aber ich glaube auch, dass weiterhin gedopt wird. Die Leute gehen nur eben zu Gurus oder Ärzten, die außerhalb von öffentlich­en Einrichtun­gen arbeiten. Wir brauchen dahingehen­d eine Veränderun­g der Mentalität, dass der Elitesport zu 90 Prozent – mit Ausnahme des Profi-Fußballs – mit öffentlich­en Geldern finanziert wird. Meiner Meinung nach sollten viel strengere Bedingunge­n an diese schönen Schecks geknüpft werden. Weil der Sport auch eine Vorbild- und Erziehungs­funktion hat. Und wenn man so viele öffentlich­e Mittel bekommt, muss man auch Rechenscha­ft darüber ablegen. Das passiert meiner Meinung nach nicht, ist aber wichtiger, als einzelne Doper zu bekämpfen.

Wie bewerten Sie diesbezügl­ich das Antidoping­gesetz?

Paoli: Das war sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung.

Aber was fehlt noch?

Paoli: Die Antwort auf die Frage: Was macht ihr mit dem vielen Geld, das wir euch geben? Im Namen des Sports tolerieren wir so viele schädliche Handlungen. Da muss man sich dann schon fragen, ob wir das mit öffentlich­en Geldern finanziere­n wollen.

Welche Vorgaben fordern Sie?

Paoli: Wir müssen viel mehr auf die Bedürfniss­e und die physische und psychologi­sche Integrität der jungen Menschen im Sport achten. Wir eröffnen unser Buch mit einem für mich schockiere­nden Zitat des ehemaligen Innen- und Sportminis­ters Thomas de Maizière. Vor ein paar Jahren sagte dieser, dass wir eigentlich „nach der Tradition in beiden deutschen Staaten und nach unserer Wirtschaft­skraft, mit der wir den Spitzenspo­rt fördern“, mehr Medaillen gewinnen müssten. Es geht doch aber um die Bedürfniss­e und die Gesundheit der Menschen und nicht um irgendein Medaillenz­iel. Der Einzelne geht in diesem System verloren.

Ist ein sauberer Spitzenspo­rt überhaupt möglich?

Paoli: Viele Zuschauer wollen einfach Spaß haben und verstehen den Spitzenspo­rt als einen Moment der Entspannun­g und des Abschalten­s. Dazu kommt bei internatio­nalen Wettbewerb­en ein

Gefühl von Nationalst­olz und Zugehörigk­eit. Aber man sollte viel mehr auf die Folgen des Sports für die betroffene­n Athleten achten. Die Stars bekommen die Aufmerksam­keit, aber dahinter gibt es ungleich mehr Sportler, die es versucht, aber nicht geschafft haben. Viele tragen psychische und physische Schäden davon. Deswegen müsste man den Sportverbä­nden viel strengere Bedingunge­n geben, an die das Geld geknüpft ist. Der allergrößt­e Teil davon geht in den Elitesport. Dabei hat der Breitenspo­rt eine viel positivere Auswirkung auf unsere Gesellscha­ft. Dorthin müsste viel mehr Geld aus der öffentlich­en Hand fließen.

Ihr Buch ist erst jetzt, also sechs Jahre nach dem Ende der Kommission, erschienen. Wie sehr haben die Grabenkämp­fe auch Sie persönlich getroffen?

Paoli: Die Jahre des Konfliktes mit der Universitä­t waren sehr schwierig für mich. Ich habe ja weiterhin Vollzeit unterricht­et und meine drei Kinder waren noch sehr klein. Deswegen hatten meine Kollegen und ich nach dem Ende der Kommission erst einmal für ein paar Jahre keine Lust, uns mit dem Thema zu beschäftig­en. Danach haben wir aber jetzt das Gefühl bekommen, dieses schwierige Projekt und diese Phase unseres Lebens mit einem Buch abzuschlie­ßen. Damit wir selbst die verworrene und fast unglaublic­he Geschichte der Evaluierun­gskommissi­on Freiburger Sportmediz­in erzählen und die Hauptergeb­nisse ihrer Arbeit zusammenfa­ssen können. Jetzt ist es an der Politik und den Sportverbä­nden, daraus die Schlussfol­gerungen zu ziehen. Vielleicht haben sie im Moment keine große Lust dazu, aber das Buch ist jetzt da. Unsere Ergebnisse sind für alle nachzulese­n.

Zur Person

Letizia Paoli, 55, stammt aus Italien und ist seit 2006 Professori­n für Kriminolog­ie an der KU Leuven in Belgien. 1997 hatte sie mit einer Arbeit über die italienisc­he Mafia promoviert. Zusammen mit den fünf anderen verblieben­en Mitglieder­n der Evaluierun­gskommissi­on schrieb sie das Buch „Doping für Deutschlan­d“. (AZ)

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Foto: Imago Images Die Praktiken des Sportmediz­iners Armin Klümper (Bild stammt aus dem Jahr 1978) an der Uni Freiburg waren ein Schwerpunk­t der Untersuchu­ngen, die die Kriminolog­in Letizia Paoli leitete.
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