Eugen Ruge: Metropol (54)
Roman von Eugen Ruge
Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angeblichen Hochverräter zu rechtfertigen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugten Kommunisten. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwinden nach und nach…
© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg
Und doch fragt sie sich plötzlich, während die Sterne über ihr kreisen und ihre Gedanken vor Müdigkeit schon durchsichtig zu werden beginnen, wie es eigentlich möglich war, dass die Mutter vom Gehalt eines unteren Beamten, eines Revisors der Königlichen Porzellanmanufaktur, dreißigtausend Reichsmark beiseitegebracht hatte (eine für die damalige Zeit ungeheuerliche Summe, von der Charlotte nie erfahren hätte, wäre ihr Wert nicht während der Hochinflation
in wenigen Wochen dermaßen geschrumpft, dass es nicht einmal mehr für den Straßenbahnfahrschein reichte für die Fahrt zur Bank). Das bedeutete doch, dass die Mutter gar nicht für Carl-Gustav gespart hatte. Das Geld war ja nicht bei ihm angekommen, sondern auf dem Sparkassenbuch gelandet! Wofür hatte sie also gespart? Wofür ihren Mann terrorisiert? Wofür jeden Faden und jeden Fetzen gesammelt, wozu jeden Korken aufbewahrt und auf der Straße Papierschnipsel aufgehoben, wozu Zahnpulver mit Kochsalz verlängert und Seife aus irgendwelchen Laugen und alten Ölen zu kochen versucht?
Sogar ein Zimmer in der ohnehin nicht großen Wohnung wurde, wie es hieß, abvermietet, sodass das Lottchen in der fensterlosen Kammer schlafen musste und für ihren Bruder nur das Sofa in der Küche blieb. Ja, auch an ihm wurde gespart, und so gesehen war es ja fast noch ein Privileg, eine eigene Kammer zu besitzen… Seltsamer
Gedanke. Auf diese Weise vertrödelt sie die kältesten Tage, mit schlechtem Gewissen, bis sämtliche Vorräte aufgebraucht sind und sie zum Frühstück nur noch Zwieback knabbern. Aber selbst das scheint Wilhelm kaum zu bemerken, und auch das ärgert sie. Dann wird das Wetter trüb, die Temperaturen steigen ein wenig, und obwohl ihre Müdigkeitsanfälle sich noch verschlimmern, rafft Charlotte sich endlich auf, das Notwendigste zu besorgen.
Zum Glück kennt sie inzwischen alle Läden in der Gegend, weiß ziemlich genau, wo es was gibt, und manchmal sogar, wann. Auch sucht sie neuerdings hin und wieder den kleinen Bauernmarkt am Arbat auf, wo alles teurer, aber dafür fast ohne Anstehen zu haben ist. Jedoch obwohl es kein Schwarzmarkt ist, fühlt sie sich ein bisschen unwohl. Fast kommt es ihr kriminell vor, wenn man etwas ohne Anstehen bekommt.
Ein schlechtes Gewissen hat sie auch, wenn sie sich mitunter ein
Stück Kuchen am Buffet der neu eröffneten Metro-Station leistet, um die lange Zeit bis zum Mittagessen zu überbrücken. Allerdings schwindet ihr schlechtes Gewissen, als sie herausfindet, dass Wilhelm, wenn er an kalten Tagen die Metro benutzt, dasselbe tut.
Er kommt täglich gegen zwei von der „Arbeit“. Neuerdings hat er sich angewöhnt, anschließend ein Stündchen zu schlafen, eine Art Mittagsschlaf vor dem Mittagessen. Nach dem Essen brüht er sich einen Kaffee, wobei er inzwischen ungehemmt das Tauchsiederverbot missachtet, was Charlotte mit grimmiger Freude registriert. Dann knipst er die Schreibtischlampe an und arbeitet an seinem Brief.
Nach dem zweiten Prozess hat er alles bisher Geschriebene verworfen, nun spitzt er wieder Bleistifte und kritzelt Entwürfe, denkt nach, kritzelt weiter, radiert Worte und Sätze aus und befördert den Abrieb des Radiergummis umständlich in den Papierkorb. Zunächst
versucht Charlotte, das Ganze zu ignorieren und ihre Tscheljuskin weiterzulesen, sie will endlich fertig werden mit diesem Buch. Aber der Schreibtisch steht direkt neben ihrem Bett, sie spürt Wilhelms Anwesenheit, sie hört, wie er vor Anstrengung durch die Nasenhaare schnauft, die er zwar wöchentlich mit der Nagelschere zu kürzen versucht, die aber, dem Geräusch nach zu urteilen, immer dichter werden. Sie hört sein unwilliges Ächzen, wenn ihm die viel zu spitze Spitze abbricht. Bald fängt sie an, darauf zu warten, dass es wieder passiert: dass er wieder den Bleistift spitzt, der ihm erneut abbricht.
Sie hört das Quietschen des wackelnden Schreibtischs beim Radieren.
Sie hört Wilhelm pusten, wenn die Radierkrümel sich nicht vom Papier lösen wollen.
Am meisten aber wurmt sie seine enervierende Langsamkeit. Sie beobachtet aus den Augenwinkeln, wie er seine dürren, schräggestellten Buchstaben malt. Sie leidet an seinen Denkpausen. Sie zählt heimlich die Wörter, die er nach einer neuerlichen Denkpause niederschreibt.
Besonders schlimm ist es, wenn er aufsteht und anfängt, durchs Zimmer zu wandeln. Er geht immer denselben Weg, beginnend am Schreibtisch, dann am Fußende des Bettes entlang zur Badezimmertür, Kehrtwendung, an der Wand entlang zurück, dann mit leichter Kursänderung rechts zum Fenster, wo er unbestimmte Zeit stehen bleibt, um auf die verschneite Neglinnaja uliza zu starren, unter der irgendwo unsichtbar das Flüsschen Neglinka fließt.
Und wenn er sich dann wieder an den Tisch setzt und, anstatt nun beherzt loszuschreiben, nach einem halben Wort abbricht und wieder ins Grübeln verfällt, möchte sie ihm am liebsten mit dem Buchrücken auf den Hinterkopf schlagen – und erschrickt, weil sie plötzlich ihre Mutter in sich wiedererkennt. 55. Fortsetzung folgt