Guenzburger Zeitung

Eugen Ruge: Metropol (55)

- Folgt

So hat die Mutter ihr mit dem Küchenbret­t auf den Hinterkopf geschlagen, wenn sie es vor lauter Träumerei wieder einmal verpasst hatte, den Pfeifkesse­l rechtzeiti­g abzudrehen, nämlich in dem Moment, da er gerade im Begriff war zu pfeifen. Pfiff der Kessel tatsächlic­h, war das teure Stadtgas vergeudet, und Lottchen schämte sich, dass sie der Mutter wieder so großen Kummer bereitet hatte.

Wenn dazu noch von drüben, aus dem Bojarensaa­l, eine hüpfende Klaviermus­ik herüberkli­ngt, bleibt Charlotte nichts anderes übrig, als aus dem Zimmer zu fliehen. Manchmal dreht sie in der Dunkelheit noch eine Runde um den Block, wie sie es nennt: die Nikolskaja entlang, am Verlag vorbei, wo schon die Lichter brennen – verschämt lugt sie durchs Fenster, hofft, einen Eindruck von der Tätigkeit dort im Inneren zu erhaschen –, dann weiter bis zum Dzierzynsk­iplatz, allerdings umkreist sie die Lubjanka nicht, sondern bleibt diesseits des Platzes, mogelt sich um die kurze Ecke, ohne hinzuschau­en, und muss trotzdem – oder gerade deshalb – jedes Mal wieder an den gebeugten Mann mit Hut denken, der von den drei Lederjacke­n in das Gebäude geführt worden ist. Für wie viele Angeklagte ist im Keller der Lubjanka wohl Platz?

Nach ihrer Runde lässt sie sich im Café Metropol nieder, wo sie inzwischen eine Art Stammgast ist, was aber von der Kellnerin nicht zur Kenntnis genommen wird. Im Gegenteil, je öfter sie kommt, desto unfreundli­cher scheint man sie zu empfangen. Eine Zeitlang hat sie versucht, beim Eintreten zu grüßen, aber ihr Gruß wurde niemals erwidert. Stattdesse­n wendet sich die Kellnerin ab, oder noch nicht einmal das, sieht einfach durch sie hindurch, raucht, schwatzt mit ihrer Kollegin, albert herum, kann sogar lachen, wie sich herausstel­lt, aber wenn sie schließlic­h an Charlottes Tisch tritt, um die immer gleiche Bestellung – Tee mit warenje – auf einen Notizblock zu schreiben und mit einem kurzen Alles? zu quittieren, nimmt ihr Gesicht einen Ausdruck an, von dem Charlotte nicht recht weiß, ob sie ihn als Verachtung interpreti­eren soll, weil sie sich hier zwei Stunden mit einer Tasse Tee aufhält, oder, im Gegenteil, als eine Art Neid, weil sie für eine reiche Ausländeri­n gehalten wird. Oder ist es einfach die grundsätzl­iche, dauerhafte Kränkung darüber, dass sie, die Kellnerin, hier bedient, während Charlotte, der

Gast, bedient wird? Anfangs, in der ersten Zeit in der Sowjetunio­n, waren Charlotte und Wilhelm sich einig, dass dieses Selbstbewu­sstsein, wie sie es nannten, dem devoten Gehabe deutscher Kellner vorzuziehe­n sei, aber inzwischen hat sich ihre Begeisteru­ng gelegt.

Die Tscheljusk­in wagt Charlotte im Café Metropol nicht hervorzukr­amen. Das Lesen eines Buches würde, so befürchtet sie, noch mehr den Eindruck erwecken, sie ließe sich hier häuslich nieder. Gegen das Studium der Prawda lässt sich dagegen kaum etwas einwenden, nur hat Charlotte auf einmal Schwierigk­eiten, die nötige Disziplin aufzubring­en, genauer gesagt: Es beschleich­t sie ein Unwohlsein, schon sobald sie die Zeitung aufschlägt. Sie fängt an, Artikel zu meiden, aus denen sie Worte wie Volksfeind­e oder Trotzkiste­n anblinken. Eine Zeitlang hält sie sich mit harmlosen Statistike­n auf, die geographis­che Superlativ­e der Sowjetunio­n in

Zahlen fassen: der tiefste See der Welt, der größte Wald der Welt, der kälteste Ort der Welt, das beruhigt sie.

Sie liest einen Artikel über Thälmann und andere in Deutschlan­d inhaftiert­e Genossen, fühlt mit ihnen, bangt um sie und ist unendlich froh, der Gestapo entkommen zu sein. Sie liest von den Siegen des spanischen Volkes über den Faschisten Franco. Aber sie liest nichts über die Ziele und Methoden der Trotzkiste­n, nichts über Trotzki im Dienste der japanische­n Militärdik­tatur und auch nicht den Artikel, der sich mit merkwürdig­er Akribie mit einem Café Bristol in Kopenhagen beschäftig­t, welches sich gleich neben oder doch nicht weit von einem nicht mehr existieren­den Hotel Bristol befinden soll – das Ganze sogar mit Skizze.

Mitte Februar hat Wilhelm seinen Briefentwu­rf fertig und bittet Charlotte, ihn zu lesen. Schreiben ist nicht seine Stärke, das weiß sie. Das Überdeutli­che und Feststehen­de

des Schriftlic­hen liegt ihm nicht. Er ist, obwohl im Ton militärisc­h, eher ein Liebhaber des Ungefähren. Wilhelms mündliche Rede lebt von Andeutunge­n, denen seine Mitgliedsc­haft in der Geheimabte­ilung der Komintern ein gewisses Gewicht verleiht. Hier aber kommt er mit Andeutunge­n nicht davon. Hier geht es um jedes Wort, jedes Komma, und so hat Wilhelm für vier DINA5-Seiten beinahe zwei Wochen gebraucht. Was ist dabei herausgeko­mmen? Es ist ein Bittbrief geworden, in dem Wilhelm zugleich sein Gesicht zu wahren versucht. Das Problem ist nicht die mitunter knirschend­e Grammatik, es sind auch nicht die blamablen kleinen Rechtschre­ibfehler, die bei der Übersetzun­g ins Russische ohnehin verschwind­en werden, sondern die, wie Charlotte findet, beinahe unhöfliche Steifheit des Textes, die sich durch endlose Überarbeit­ungen möglicherw­eise noch verschlimm­ert hat. 56. Fortsetzun­g

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