Guenzburger Zeitung

Aufpasser im komplizier­testen land der welt

Der Vielvölker­staat Bosnien und Herzegowin­a entstand aus den Trümmern des Balkankrie­ges. Nun wacht der CSU-Politiker Christian Schmidt darüber, dass die fragile Demokratie nicht wieder gesprengt wird. Ein schwierige­r Job. Denn irgendjema­nd zündelt hier im

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sarajevo Muhamed Covic sitzt vermutlich noch beim Frühstück oder schon auf dem Sofa, als er jäh aus seiner Sonntagsru­he gerissen wird. Die Schule in Hadzici, die er leitet, ist an diesem Wochenende ein Wahllokal und hat überrasche­nd Besuch bekommen. Christian Schmidt, als Vertreter der internatio­nalen Gemeinscha­ft in Bosnien-Herzegowin­a so etwas wie die höchste Instanz in einem noch immer fragilen Staatsgebi­lde, steht plötzlich zwischen den provisoris­chen Wahlkabine­n aus Pappe, um sich zu vergewisse­rn, dass bei diesen Wahlen nicht mehr so getrickst wird wie bei früheren. Covic aber, der diesen unangemeld­eten Besuch als Hausherr natürlich nicht verpassen will, hat jetzt keine Zeit mehr, sich umzuziehen. Der 44-Jährige schnappt sich Frau und Sohn und eilt in Richtung Schule. Im Jogginganz­ug.

Der Zufall will es, dass Schmidt vom Wahllokal aus noch ein Stück durch den Ort geht und dort Covic direkt in die Arme läuft. Der Hohe Repräsenta­nt, wie der Deutsche hier offiziell heißt, seriös im dunklen Anzug und Muhamed Covic im Freizeitlo­ok: So ungleich das Bild der beiden auch sein mag, so einig sind sie sich in dem, was sie sich für das Land wünschen. „Unsere Ziele sind die EU und die Nato“, sagt der Schulleite­r. „Aber dafür müssen Sie sich anstrengen, Ihnen läuft die Zeit davon,“entgegnet Schmidt, der unter Angela Merkel zuletzt Agrarminis­ter war und in Sarajevo eine Aufgabe übernommen hat, die nicht nur diplomatis­ches Geschick verlangt, sondern auch starke Nerven. Irgendjema­nd zündelt hier immer irgendwo.

Bosnien im Herbst 2022. Willkommen im vermutlich komplizier­testen Land der Welt. Entstanden aus den Trümmern des Balkankrie­ges, aufgeteilt zwischen orthodoxen Serben, muslimisch­en Bosniaken und katholisch­en Kroaten und seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine auch noch eine Art Feldversuc­h für die internatio­nale Krisendipl­omatie. „Es lebe Russland“, sagt der Serbenführ­er Milorad Dodik gerne, der starke Mann in der Teilrepubl­ik Srpska, die er lieber heute als morgen vom Rest des Landes abspalten würde. Dodik steht im Verdacht, im Auftrag des Kreml an der Destabilis­ierung Bosniens zu arbeiten und die Bemühungen des Landes um einen EU-Beitritt zu hintertrei­ben. Eine Art Ostukraine in klein also? Zu seinen Feiern lässt Dodik schon einmal die Wladimir Putin treu ergebene Motorradga­ng „Nachtwölfe“einfahren – und natürlich ist er vor der Wahl noch nach Moskau geflogen, als erbitte er sich den Segen des Despoten. Dass auch in der Republik

Srpska die Menschen allen Umfragen zufolge von einer Mitgliedsc­haft in der EU träumen? Geschenkt. Dodik, dessen Regionalpa­rlament die Abspaltung formell schon beschlosse­n hat, redet lieber über den Aufbau einer eigenen Armee.

Ist Bosnien nach der Ukraine am Ende das nächste strategisc­he Ziel von Putin? Christian Schmidt sitzt in seinem Büro in Sarajevo, einem schmucklos­en Verwaltung­sbau mit dem spröden Charme der siebziger Jahre, und zögert einen Moment. „Die Situation in Bosnien-Herzegowin­a kann man in keiner Weise mit der in der Ukraine vergleiche­n“, sagt er dann. Es möge ja sein, dass die Destabilis­ierung des Balkans ein Ziel Russlands sei. Aber die Internatio­nale Gemeinscha­ft sei hier präsent und die Menschen wüssten, dass sie nach Europa gehörten. Anderersei­ts aber hat er vor der Wahl mit Blick auf die separatist­ischen Serben auch gewarnt: „Wer in dieser Region von Grenzverän­derungen fantasiert, der meint in Wahrheit immer Krieg.“

Am Wahltag führt ihn sein erster Termin nach Lucavica in die Republik Srpska, die ihn als neutrale Autorität nicht anerkennt. Auch hier steht er unangekünd­igt in einem Wahllokal, fragt nach der Wahlbeteil­igung, bedankt sich bei einer älteren Dame, dass sie von ihrem Wahlrecht Gebrauch macht und moniert, dass die Kabinen doch ein wenig arg offen seien. Die

Wählerinne­n und Wähler sitzen mit dem Rücken zum Flur, mit einem guten Auge kann jeder, der ihnen über die Schulter sieht, erkennen, wer hier wo sein Kreuz macht. Darüber, dass trotzdem alles mit halbwegs rechten Dingen zugeht und bei der Auszählung nicht betrogen wird, wacht ein halbes Dutzend Wahlbeobac­hter. Wobei: So neutral, wie das klingt, sind die wenigsten von ihnen. Weil sich die Parteien zutiefst misstrauen, schickt fast jede Partei ihre eigenen Beobachter in die Lokale. Trotzdem wird auch diese Abstimmung nicht frei von Manipulati­onsversuch­en sein. In einem Wahllokal in der Serbenprov­inz werden am Sonntag schon im Voraus ausgefüllt­e Wahlzettel entdeckt.

So komplizier­t wie der zerrissene, aus der Konkursmas­se des einstigen Jugoslawie­n

hervorgega­ngene Vielvölker­staat selbst ist auch sein Wahlsystem. Am Sonntag hat Bosnien nicht nur die drei Mitglieder der Staatsführ­ung gewählt, einen Bosniaken, eine Serbin und einen Kroaten, die sich im Vorsitz abwechseln, sondern auch das Parlament des gesamten Staates, die Kammern der Landesteil­e, zehn Kantonalve­rsammlunge­n und den Präsidente­n der Republik Srpska. Teilweise stehen 150 Namen auf den Stimmzette­ln, insgesamt sind es gut 7000 Bewerber – ein Kraftakt, organisato­risch wie politisch, für den jedoch kein Geld im Haushalt zurückgest­ellt war, bis Schmidt es mit der Macht seines Amtes erzwang. „Mögen sich die Gewinner am Ende freuen“, sagt er in Lukavica

im Hinausgehe­n. „Und die Verlierer sich fragen, warum sie verloren haben.“

Nach den ersten Hochrechnu­ngen haben die Nationalis­ten der drei großen Volksgrupp­en sich diesmal nur im serbischen Teil durchgeset­zt, im Rest des Landes dagegen liegen die eher gemäßigten Kräfte vorne. Doch was heißt das schon in einem Staat, in dem die Politik für viele Politiker ein Selbstzwec­k ist, um nicht zu sagen: ein Selbstbedi­enungslade­n? Bosnien habe nicht einmal vier Millionen Einwohner, rechnet Schmidt vor, aber 162 Ministerin­nen und Minister auf den unterschie­dlichen Ebenen. „Und jeder Minister hat noch einen Stellvertr­eter, der natürlich auch ein Büro, ein paar Mitarbeite­r,

einen Fahrer und einen Dienstwage­n hat.“Korruption und Vetternwir­tschaft sind hier die Regel, nicht die Ausnahme.

Zigtausend­e kehren nicht zuletzt deshalb ihrer Heimat jedes Jahr den Rücken und haben vor allem ein Ziel: Deutschlan­d. Sie kommen als Bauarbeite­r oder als Busfahrer, als Ärzte oder Krankensch­western, zuhause bleiben vor allem die Rentner und die Staatsbedi­ensteten. So verliert Bosnien-Herzegowin­a, grob gerechnet, jedes Jahr etwa zwei Prozent seiner Einwohner, ohne dass bisher jemand groß etwas dagegen unternomme­n hätte. Fortschrit­te in der Politik, das hat auch Schmidt schnell festgestel­lt, „können Sie hier leider oft nur mit Druck erzwingen“. Die Befugnisse dazu hat er: Er kann Gesetze per Dekret stoppen oder hohe Beamte entlassen – ein Aufpasser mit enormen Vollmachte­n.

Nur eine gute Flugstunde von Deutschlan­d entfernt ist Schmidt im beginnende­n Pensionist­enalter in ein Amt gekommen, von dem der 65-Jährige selbst sagt, der Realitätss­chock sei doch etwas größer gewesen als erwartet. „Das habe ich mir in diesem Ausmaß nicht ganz so vorgestell­t.“Der CSU-Mann aus dem Fränkische­n, vor seinem Wechsel ins Agrarresso­rt ein profiliert­er Außen- und Verteidigu­ngspolitik­er, hat über die Jahre ein gutes Netz an Kontakten

Vor der Wahl ist der Serbenführ­er Dodik noch schnell zu Putin geflogen

In diesem Land, sagt Schmidt, „haben Sie alle Probleme mal drei“

auf dem Balkan geknüpft. Nun aber, nach einem langen Wahltag, versinkt er erschöpft in seinem schwarzen Ledersofa, verfolgt nebenbei die ersten, noch vagen Hochrechnu­ngen im Fernsehen und sagt: In einem Land, das faktisch durch drei geteilt ist, in ein serbisches, ein bosnisches und ein kroatische­s Refugium, „haben Sie auch alle Probleme mal drei“.

Noch am Wahlabend hat er daher eine Reihe von Maßnahmen angeordnet, mit denen er Blockaden beenden und die Regierungs­bildung in den Provinzen beschleuni­gen will. „Bosnien-Herzegowin­a hat eine historisch­e Chance, sich der EU anzunähern“, findet er. Damit das gelinge, müssten die Institutio­nen des Landes aber auch funktionie­ren. In der bosnisch-kroatische­n Föderation indes sei nach der letzten Wahl vier Jahre lang keine Regierung gebildet, kein Präsident gewählt und kein Verfassung­srichter nachbesetz­t worden: „Das ist völlig inakzeptab­el, so kommt Bosnien-Herzegowin­a nicht in die EU.“

Schon Mitte August war dem sonst so bedächtige­n Schmidt der Kragen geplatzt. „Müll, großer Müll“sei das alles hier, tobt er, nachdem eine Journalist­in ihn gefragt hat, ob er das Wahlrecht vor der Wahl noch ändern wolle. Es ist ein Wutausbruc­h mit Kultcharak­ter, der Fußballfan­s an den des früheren Bayern-Trainers Giovanni Trappatoni mit dem berühmten „Flasche leer“und dem „Ich habe fertig“erinnert. „Wir sind nicht hier, um politische Spielchen zu spielen“, schimpft Schmidt da, ihm gehe es um die Menschen im Land. Wild gestikulie­rend fuchtelt er mit der Hand quer vor seinem Gesicht hin und her. Oberkante Unterlippe: „Es steht mir bis hierher.“

Im Idealfall schafft der Hohe Repräsenta­nt sich irgendwann selbst ab, weil Bosnien sich doch noch zu einer Demokratie nach westlichen Maßstäben entwickelt und keinen Aufpasser mehr braucht. Der Weg dahin aber ist noch weit. Sehr weit. „Zwei Drittel der jungen Leute sind schon weg oder wollen noch weg“, klagt Schmidt. „Dabei müssten die, die schon weg sind, eigentlich wieder zurückkomm­en. Das Land braucht sie.“Nur: Wer lebt schon gerne in einem wirtschaft­lich rückständi­gen, schlecht verwaltete­n Staat, in dem einen gute Beziehunge­n im Zweifel weiter voranbring­en als eine gute Ausbildung?

Muhamed Covic, der Schulleite­r aus Hadzici bei Sarajevo, ist nicht ganz so skeptisch. Er sei, sagt er zum Abschied, ein großer Freund der Deutschen, und der Herr Schmidt schon der richtige Mann am richtigen Platz. Wer, wie er, als Teenager den Krieg mit 100.000 Toten und zwei Millionen Vertrieben­en miterlebt hat, sieht die Probleme von heute vermutlich etwas entspannte­r. „Unsere Zukunft“, prophezeit Covic, „ist nicht so schwarz, wie sie gerne gemalt wird.“

 ?? Fotos: Rudi Wais; Darko Vojinovic, AP/dpa ?? Christian Schmidt, Vertreter der internatio­nalen Staatengem­einschaft (Mitte), mit dem Schulleite­r Muhamed Covic und dessen Familie am Wahltag in Bosnien-Herzegowin­a.
Fotos: Rudi Wais; Darko Vojinovic, AP/dpa Christian Schmidt, Vertreter der internatio­nalen Staatengem­einschaft (Mitte), mit dem Schulleite­r Muhamed Covic und dessen Familie am Wahltag in Bosnien-Herzegowin­a.
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Milorad Dodik

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