Ein Händchen für die Traviata
Die Neuinszenierung von Verdis Oper am Staatstheater Augsburg besticht durch ihr Protagonisten-Trio. Und das, obwohl einer aus diesem Dreigestirn keineswegs in bester Verfassung war.
Augsburg Jacques le Roux ist ein Pechvogel. Die Gesundheit hat dem Tenor am Staatstheater Augsburg wieder einmal einen Streich gespielt. Nicht so fies wie bei der letzten Premiere, als er krankheitsbedingt zur „Peter Grimes“-Neuinszenierung gar nicht antreten konnte. Diesmal war es nur eine Erkältung, freilich nichts, was man als Sänger an so einem Tag gebrauchen kann. Le Roux ging trotzdem auf die Bühne und, so viel sei schon mal vorweggenommen, schlug sich beachtlich als Alfredo in Augsburgs neuer „Traviata“.
Giuseppe Verdis Psychogramm der Kurtisane Violetta Valéry ist eine der großen weiblichen Opernfiguren, ein komplexer Charakter: Tändelnde Kokette, doch eigentlich innig Liebende, dazu eine aus Herzensneigung Verzichtende, die am Ende auch noch an Tuberkulose stirbt. Eine Herausforderung für jede Interpretin – also durfte man gespannt sein, wie Jihyun Cecilia Lee, seit fünf Jahren Augsburger Ensemblemitglied, doch bisher eher fürs leichtere Fach gebucht, sich als „Traviata“, als „vom Weg Abgekommene“sängerisch-darstellerisch schlagen würde.
Wer je ein Bild der Marie Duplessis gesehen hat, jener „Kameliendame“, nach deren Leben Dumas der Jüngere seinen berühmten Roman schuf (worauf wiederum das Opernlibretto zurückgreift), wer sich vor Augen führt, dass diese tatsächlich existierende Pariser Kurtisane mit gerade mal 23 Jahren starb, der wird nicht auf die Idee kommen wollen, dass es sich bei dieser schmalgesichtigen jungen Frau um einen Männer verschlingenden Vamp gehandelt hat. Insofern liegt die Sopranistin Lee, rein äußerlich den jugendlichen Typus verkörpernd, auf Linie mit dem historischen Vorbild.
Zumal es die Koreanerin versteht, dieses Rollenbild überzeugend ins Sängerische zu überführen. Ob nun erotische Tändelei oder die durch Alfredo geweckte Liebes-Euphorie, die sie wie ein Blitz trifft, Jihyun Cecilia Lee gelingt es, die rasch aufeinanderfolgenden Gefühlsextreme geradezu spannend aus sich heraus zu entwickeln und das Publikum im Staatstheater-Martinipark in Bann zu schlagen mit gesungener Seelen-Entäußerung. Eine verlässliche Plattform dafür ist Lees ausgesprochen homogene, leichtfüßig
aufsteigende Stimme, fähig auch zu innigstem, gleichwohl prägnantem Pianogesang. Ariose Spitzen sind tadellos gesetzt, wo sie in extremer Höhe liegen, kosten sie die Sängerin allerdings noch sichtlich Kraft. Verdienstvoll, dass sie sich des vermeintlich rollengerechten Hustens und Schluchzens fast völlig enthält. Mit ihrer Violetta jedenfalls stößt Jihyun Cecilia Lee entschieden die Tür auf ins anspruchsvolle Sopranfach.
Violettas großer Kontrahent in Verdis Oper ist der alte Germont, Vater ihres Geliebten. In Augsburg wird er dargeboten von Alejandro Marco-Buhrmester. Der Bariton hat mit seinem eloquenten, samtig fließenden Bariton ideale Voraussetzungen für das Porträt eines
soignierten Bürgers, ist freilich ein zu kluger Interpret, um sich darauf auszuruhen: Das Lauernde, das bei Germont immer mitschwingt, wenn er seinen Alfredo aus dem Zauberkreis der Kurtisane herauslösen will, die schmeichelnden, bittenden, subtil drohenden Untertöne hinter der GentlemanMaske, sie hat Marco-Buhrmester allesamt parat, und so wird sein Aufeinandertreffen mit Lees Violetta in der ersten Hälfte des zweiten Akts zu einer Szene voll knisternder Spannung.
Die Kunst der Mehrdeutigkeit, der ambivalenten Anspielung, ist auch Kennzeichen der Inszenierung von Eva-Maria Melbye. Die dänische Regisseurin macht das schon in der raumzeitlichen Verortung
deutlich, die im Gestern ebenso wie im Heute spielen kann – egal ob hier oder dort, klar ist bei Melbye, dass die Gesellschaft, die Violetta umkreist, eine vergnügungssüchtige ist. Fünf bewegliche Wandelemente mit großen ovalen Öffnungen gliedern die einzelnen Szenen zu jeweils verschiedenen Räumen (Bühnenbild: Marie í Dali), mal als spiegelbehangenen Festsaal, mal als Fensterfront, hinter der es schneit, zuletzt als spucknapfbleiche Rahmungen der letzten Momente Violettas. In diesem vielfältig funktionalen Ambiente gelingen Melbye immer wieder Szenen von behutsamer Eindringlichkeit. Pars pro toto: Als Germont im ersten Bild des 2. Akts Violetta dazu genötigt hat, auf Alfredo
zu verzichten, und der Schmerz darüber sich Bahn bricht in der um ihre Hoffnung gebrachten Frau, sieht man Violetta nicht von weißem Geflocke – draußen ist Winter –, sondern rot bestäubt, auch unter ihr alles rot. Ein szenischer Fingerzeig nicht nur auf die Krankheit zum Tode, die sie Blut spucken lässt, sondern auch – hinten im Eck schaukelt dazu ein Mädchen – auf das Ende ihres Kinderwunsches mit Alfredo, ja vielleicht bereits einer Schwangerschaft, der sie gewaltsam ein Ende bereiten wird. Das ist, wie gesagt, nur angedeutet, doch hoch plausibel und feinfühlig-bewegend umgesetzt.
Die Musik der mittleren VerdiOpern, das ist ein Stoff, wie Domonkos Héja ihn schätzt, es ist nicht zu überhören. Augsburgs Generalmusikdirektor hat seine Philharmoniker auf einen trockenen Klang getrimmt, das macht gerade die Ball-Szenen federnd und spritzig und rührt dort, wo sehnsuchtsvolle Melodik in den Vordergrund rückt, nicht zu viel Gefühligkeit unter. Umso mehr modifiziert Héja in feinsten Stufungen Tempo und Dynamik, stets in perfekter Relation zu den Regungen der Protagonisten. Da fährt das Orchester regelrecht hoch, wenn Alfredo vor Eifersucht kocht, während in feinstem Pianissimo die Streicher zucken, als Violetta sich inwendig ihren Verlustkummer von der Seele singt. Das Tutti-Forte knallt allerdings oftmals in extremer Stärke – Héja und die ebenerdig sitzenden Philharmoniker müssten eigentlich längst um die Akustik des Martiniparks wissen ...
Und Jacques le Roux, der zur Premiere indisponierte Alfredo? Weiß mit dem Handicap bewundernswert umzugehen. Wie er sich, ganz rollengerecht entflammt, in Alfredos Arien hineinwarf, um in den genau kalkulierten Momenten, in denen die Stimme vermutlich versagen würde, dann doch dynamisch zurückzufahren, notfalls auch nach unten zu oktavieren, das war an diesem Abend eine Leistung für sich. Zu Recht Applaus am Ende für ihn wie für alle Beteiligten – das Ensemble zeigt sich auch in kleineren Rollen engagiert, bis hin zur druckvoll singenden „Gesellschaft“des Opern- und Extrachors. Ein gelungener Start in den Augsburger Opernherbst.