Eugen Ruge: Metropol (56)
Roman von Eugen Ruge
Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angeblichen Hochverräter zu rechtfertigen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugten Kommunisten. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwinden nach und nach…
© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg
Da sie Wilhelm kennt, kann sie erahnen, welche Gefühlslage sich hinter den dürren Sätzen verbirgt, es rührt sie stellenweise sogar, aber ein Außenstehender wird diesem Brief kaum entnehmen können, wie es Wilhelm tatsächlich geht und was ihm die Partei bedeutet. Alle seine Behauptungen wirken leer und gestelzt, und seine Bitten klingen wie Forderungen. Schreibt er Emel absichtlich falsch, um zu betonen, wie oberflächlich seine Beziehung zu ihm war?
Aber das Erstaunlichste an dem ganzen Brief ist, dass Wilhelm ausschließlich von sich spricht, von seiner Angelegenheit. Kein Wort von ihr, von Charlotte. Und auch wenn ihr durchaus bewusst ist, dass sie in diesem Spiel eine Nebenfigur darstellt und dass ihr Schicksal hundertprozentig von seinem abhängt, berührt es sie merkwürdig, dermaßen übergangen zu werden. Oder will Wilhelm, indem er immer wieder ausdrücklich die Reinheit seines Parteigewissens betont, zum Ausdruck bringen, dass letztlich sie, Charlotte, für den Kontakt zu Emel verantwortlich sei?
Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, sich jeder Stellungnahme zu enthalten, aber nun fragt sie doch:
Warum so strikt in der Ichform? Ich bin doch auch noch da.
Weil Briefe in der Wirform nach Verschwörung klingen, antwortet Wilhelm. Wenn du willst, schreib selbst einen Brief.
Charlotte schreibt selbst. Sie entwirft den Text in wenigen Tagen, auf Englisch. Ihr schriftliches Russisch ist, das weiß sie, nicht vollkommen fehlerfrei, und sie will sich keine Blöße geben. Sie könnte den Brief auch auf Deutsch schreiben. Aber Müller-Melnikow versteht kein Deutsch, und sie will nicht, dass der feingesponnene Text durch eine ungenaue oder feindselige Übersetzung entstellt wird.
Sie gibt sich bescheiden, es erscheint ihr klug, nicht von ihren, sondern von Wilhelms Leistungen und Opfern zu sprechen. Sie erinnert an seine langjährige Treue zur Partei und beschreibt seinen Schmerz und seine Trauer angesichts der gegenwärtigen Situation in Worten, die Wilhelm nie über die Lippen kämen – um am Ende des Briefes noch eine Bitte anzufügen, die ihr wahrhaft am Herzen liegt und doch, wenn sie ehrlich ist, auch den Versuch darstellt, an jenes freundschaftliche Gespräch anzuknüpfen, das sie vor fünf Monaten mit Müller-Melnikow geführt hat: Charlotte bittet um Auskunft über das Schicksal von Jill. Und Wilhelm akzeptiert es überraschenderweise.
Allerdings braucht er noch zwei Tage, um sein eigenes Werk sauber mit Füllfederhalter abzumalen, wobei er sich wiederholt verschreibt oder ihm noch eine Änderung, noch irgendeine vollkommen unbedeutende Verbesserung einfällt.
Sollte ich vor Ihr Vertrauen verloren habe lieber noch einfügen: scheinbar?
Und er beginnt noch einmal von vorn. Noch einmal und noch einmal – während Charlotte ihre „Blockrunden“dreht.
Bei einer dieser Runden trifft sie Ljuba Löwenstein, eine mollige Rotblonde, die sie über Isa Koigen kennt. Sie haben sie einmal gemeinsam besucht: Isa, Wilhelm und sie, Emel war nicht dabei. Ljuba wohnte in einer Querstraße zwischen Gorkistraße und Puschkinskaja, zusammen mit ihrem stillen bärtigen Mann, der zu Charlottes
Verwunderung einen hohen Posten in der Schwerindustrie bekleidete. Verwundert war sie vor allem darüber, dass ein Mann in solcher Position zusammen mit Frau und Schwiegermutter nur ein einziges Zimmer bewohnte, wenngleich ein ziemlich großes. Verwundert war sie auch über das teure deutsche Service, das bedenkenlos zum Abendessen aufgetragen wurde (ein ähnliches hatte ihre Mutter besessen, allerdings kann Charlotte sich nicht erinnern, dass jemals davon gegessen worden wäre), und über die domrabotniza, die schafsgesichtige Hausangestellte, die das Essen servierte und tatsächlich auf einer Matratze im Flur schlief.
Und auch das ist ihr in Erinnerung geblieben: dass die Schwiegermutter nach dem Essen hinter einem Vorhang verschwand, der ihren Lebensbereich vom großen Zimmer abteilte. Eine seltsame Situation, fand Charlotte, die unwillkürlich die Stimme dämpfte, während Ljuba Löwenstein ungestört weiterplauderte und allenthalben hell und durchdringend lachte. Als sie Ljubas Gesicht jetzt vor sich sieht, blitzt in Charlotte unwillkürlich Freude auf, fast zugleich fällt ihr das von Wilhelm verhängte Kontaktverbot ein, Bekannte von Isa betreffend. Im nächsten Moment erinnert sie sich aber, dass Wilhelm Ljuba Löwenstein selbst in seiner Emel-Erklärung als Bekannte aufgeführt hat, sodass letztlich der Impuls obsiegt, sie anzusprechen, denn – auch das geht ihr in der Sekunde der Begegnung durch den Kopf – sie weiß von Ljuba, dass sie irgendetwas mit Literatur zu tun hat, und die Tatsache, dass sie hier in unmittelbarer Nähe der Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter aufeinandertreffen, lässt sie plötzlich hoffen, Ljuba könnte dorthin unterwegs sein, könnte ihr womöglich Auskünfte geben oder ihr auf sonst irgendeine Weise behilflich sein.
Zu spät bemerkt sie Ljubas abweisenden Gesichtsausdruck, da hat sie sie schon angesprochen. 57.