Zwei Fälle für Theo Waigel
Der Ex-Bundesfinanzminister spricht in Günzburg und Kumbach über die Deutsche Einheit, Europa und Demokratie.
Günzburg Was war das für eine Situation in den 1950er- und 1960erJahren? Die Zeit in Europa war begleitet von deprimierenden Ereignissen wie dem Bau der Berliner Mauer, den niedergeschlagenen Aufständen 1955 in Polen und 1956 in Ungarn sowie 1968 mit dem niedergeschlagenen Prager Frühling. Dann, 1990 kam es zur Deutschen Wiedervereinigung. In zwei Vorträgen sprach der frühere Bundesfinanzminister Theo Waigel zu zwei Themen, die bewegen: am Sonntag als Teil der „Langen Nacht der Demokratie“in Krumbach zu Europa als ein Modell der Zukunft und am Montag im Rokokosaal des Günzburger Heimatmuseums über die Wiedervereinigung und die Deutsche Einheit.
„Die Demokratie war nie ein
Selbstläufer. Demokratie muss man erobern und verteidigen – immer wieder und allüberall“, betont Theo Waigel am Sonntag im gut besuchten Foyer der FOS/BOS in Krumbach. Der 83-Jährige erinnert an die Verabschiedung der Römischen Verträge im Jahr 1957. Wenn man die damalige Zeit mit der von heute vergleiche, dann seien 80 Prozent seiner Erwartungen in Erfüllung gegangen – trotz der Tatsache, dass Russland von einem Dämon regiert werde und mit dem Ukraine-Konflikt Krieg herrsche.
Europa stehe heute vor einer Verantwortung wie nie zuvor, aber eben nicht zersplittert mit 27 unabhängig voneinander regierenden Staaten. Europa greife auf gemeinsame Werte zurück, was seit Jahrzehnten funktioniere und sich abbilde in einem Kontinent des Friedens und der Freiheit, einem grenzenlosen Raum für Menschen, Güter
und Ideen, Völkerverständigung, Wirtschafts- und Kulturverflechtung und in der erfolgreichste Friedens- und Demokratiebewegung der jüngeren Geschichte. Dass 2014 zehn Staaten der EU beitreten würden, hätte Waigel sich niemals träumen lassen.
„Ohne Europa hätte es die deutsche Wiedervereinigung nicht gegeben“, hebt der CSU-Politiker am Montag hervor. Deutschland sollte keine vagabundierende, unkalkulierbare Macht zwischen Ost und West bleiben. Man habe dem kürzlich verstorbenen Michail Gorbatschow unendlich viel zu verdanken. Ohne ihn wäre es nie zu diesem Wunder – in einer der weltweit am meisten militärisch aufgerüsteten Regionen – gekommen. Gorbatschow sei zu der Erkenntnis gekommen, dass es mehr Sinn mache, mit einem wiedervereinigten Deutschland vernünftig auszukommen, als die größere Bundesrepublik als Gegnerin zu sehen und die kleinere DDR als Subventionsempfängerin. Er habe außerdem eingesehen, dass weitere Rüstung unendlich viel Geld verschleudere und die Sowjetunion wohl nicht in der Lage gewesen wäre, das, was die USA auf den Weg gebracht habe, zu kompensieren.
Der frühere Bundesfinanzminister in der Regierung Kohl betonte das Erreichte nach 32 Jahren Deutsche
Einheit. 1991 lag in der früheren DDR die durchschnittliche Wirtschaftskraft bei 37 Prozent, heute sind es 80 Prozent, wie er sagte. 1991 betrug das Bruttoinlandsprodukt 7350 D-Mark gegenüber 19.829 D-Mark in den alten Bundesländern. 2020 seien es bereits 29.000 Euro gegenüber 40.000 Euro gewesen. Die Arbeitslosenquote ist in der ehemaligen DDR seit 1991 von 14,8 Prozent auf 7,3 Prozent gesunken.
Man habe damals vielleicht den Fehler begangen, den Menschen in der vormaligen DDR im Jahr 1990 den Zustand ihrer Volkswirtschaft zu wenig deutlich beschrieben zu haben. Anstelle von Nostalgiedenken sei heute über das, was alles gemeinsam geschafft worden sei, eher Dankbarkeit und Freude gegenüber dem Schicksal, dem Herrgott und auch der Politik angebracht, so Theo Waigel.