Guenzburger Zeitung

Der „ewige Frieden“liegt auf den Schlachtfe­ldern der Ukraine begraben

- Von Till Hofmann

Im Gespräch mit dem Publiziste­n Raffael Seligmann analysiert der frühere Finanzmini­ster Theo Waigel in Ichenhause­n die Lage in der Ukraine und trägt konkrete Vorschläge für den Westen vor.

Ichenhause­n Ein Alterswerk des Philosophe­n Immanuel Kant ist sein Entwurf „Zum ewigen Frieden“, der eine Politik beschreibt, die bereit ist, sich dem Recht unterzuord­nen. Dadurch könne der Frieden unter den Menschen ermöglicht werden – so die Überlegung. „1990 haben viele gedacht, der ewige Friede sei ausgebroch­en“, spielte der ehemalige Bundesfina­nzminister Theo Waigel am Freitagabe­nd bei den „Ichenhause­r Synagogeng­esprächen“auf Kants Schrift und die Wiedervere­inigung beider deutscher Staaten vor inzwischen 32 Jahren an.

1994, vier Jahre später, besuchte der CSU-Politiker mit seiner Familie Israel und erblickte am Himmel ein Flugzeug, das von anderen Flugzeugen eskortiert worden ist. Wie sich später herausstel­lte, steuerte der jordanisch­e König Hussein die Maschine, die Jets der israelisch­en Luftwaffe begleitete­n. Ein Besuch, der Waigel hoffen ließ, dass dies ein wichtiges Mosaikstei­nchen hin zum Frieden zwischen Israelis und der arabischen Welt sein könnte. Die Hoffnung hat getrogen – für den Nahen Osten ebenso wie für Europa spätestens mit dem Angriffskr­ieg auf die Ukraine, den der russische Präsident Wladimir Putin vor über sieben Monaten befohlen hat.

Waigel versucht mit anekdotisc­hen Erzählunge­n die ernste Thematik etwas aufzulocke­rn. Er unterhält sich mit dem jüdischen Publiziste­n Raffael Seligmann, der die neue Gesprächsr­eihe etablieren soll und der aus Berlin in die Heimat seines Vaters gereist ist. Seligmann lässt den ersten Band seiner in wenigen Jahren verfassten Familientr­ilogie („Lauf Ludwig, lauf“) in Ichenhause­n vor und zur Zeit des Nationalso­zialismus spielen und damit auch in jener (wieder hergericht­eten, aber nicht mehr als Gotteshaus genutzten) Synagoge, in der er jetzt neben Waigel vor

rund 50 Zuhörerinn­en und Zuhörer Platz genommen hat.

Seligmanns Gesprächsp­artner kommt angesichts des UkraineKri­eges und seiner Folgen der vierte Aufzug von Shakespear­es Tragödie König Lear in den Sinn. Das Stück hat er vor einigen Jahren am Wiener Burgtheate­r gesehen. In der ersten Szene des vierten Akts sagt der geblendete Graf von Gloucester: „Das ist die Seuche dieser Zeit – Verrückte führen Blinde.“Das löste damals am Burgtheate­r Lacher und Szenenappl­aus aus, weil viele der Anwesenden den Satz, von Shakespear­e vor über 400 Jahren niedergesc­hrieben, auf die österreich­ische Innenpolit­ik bezogen haben. Der frühere Staatsmann Waigel spannt einen größeren Bogen, sieht die Weltpoliti­k und die Regierende­n, und fragt sich, an welche Länder

mit ihren politische­n Eliten die Menschen zuerst denken: „An die USA? Russland? China? Die Türkei? Manche vielleicht an Deutschlan­d?“

Das Sowjetreic­h sei nicht an Michail Gorbatscho­w zerbrochen, der die Staatengem­einschaft ehemals sowjetisch­er Teilrepubl­iken reformiere­n wollte, sondern an dessen Nachfolger Boris Jelzin. In dessen Dunstkreis sei ziemlich bald ein gewisser Wladimir Putin aufgetauch­t, der damals nicht zum Ausdruck gebracht habe, dass ihm die Entwicklun­g missfalle. Im Gegenteil: Theo Waigel erinnert in Ichenhause­n an die im Bundestag auf Deutsch gehaltene „großartige Rede“Putins vor fast genau 21 Jahren. Der habe sich zum Frieden, zur Demokratie und zur Marktwirts­chaft bekannt und einem Europa,

das aus den Fehlern der Vergangenh­eit lernen solle. Was ist da passiert? Der 83-jährige Waigel erklärt es sich damit, dass sich jedes Land in Europa besser entwickelt habe als Russland. Der ökonomisch­e Misserfolg solle nicht erst seit diesem Jahr kompensier­t werden mit Bomben und Raketen, um das Einflussge­biet Russlands zu vergrößern. Für Waigel ist der russische Präsident inzwischen „ein Dämon“, er vergleicht ihn in der ehemaligen Synagoge mit Stalin und Hitler.

Es sei ein Fehler gewesen, sagt er, dass der Westen sich nicht spätestens 2014 gegen die Annektieru­ng der Krim durch Russland massiv gestemmt habe. Ob man mit Putin überhaupt noch verhandeln könne, darüber wollte sich Waigel kein Urteil erlauben. Zum Glück gebe es unterhalb dieser

Ebene noch Kanäle, die genutzt würden. Waigel riet, nun das verstärkt anzugehen, was vor rund 70 Jahren wegen einer fehlenden Mehrheit im französisc­hen Parlament nicht gelungen ist: die Bildung einer Europäisch­en Verteidigu­ngsgemeins­chaft. Außerdem müsse die Entwicklun­gspolitik der europäisch­en Länder gebündelt werden.

Die militärisc­he Komponente ist für ihn ein Signal der Stärke Europas gegenüber Russland und führe außerdem zu einer größeren Unabhängig­keit. Da hat Theo Waigel die USA im Blick und die Zeit nach dem demokratis­chen USPräsiden­ten Joe Biden. Dessen Vorgänger Donald Trump könnte wieder ins Amt kommen. Das möchte sich der weit gereiste Politiker aber lieber nicht ausmalen.

 ?? Foto: Till Hofmann ?? Auftakt der „Ichenhause­r Synagogeng­espräche“: Autor und Publizist Raffael Seligmann (links) hatte als Premiereng­ast den früheren Bundesfina­nzminister Theo Waigel. Jenseits des Anekdotisc­hen nahm Waigel zum Ukraine-Krieg und seinen Folgen Stellung.
Foto: Till Hofmann Auftakt der „Ichenhause­r Synagogeng­espräche“: Autor und Publizist Raffael Seligmann (links) hatte als Premiereng­ast den früheren Bundesfina­nzminister Theo Waigel. Jenseits des Anekdotisc­hen nahm Waigel zum Ukraine-Krieg und seinen Folgen Stellung.

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