Guenzburger Zeitung

Der alte Mann und die Proteste

Der Revolution­sführer Ali Khamanei reagiert hilflos auf die Demonstrat­ionen in seinem Land. Er macht die USA und Israel für die Unruhen verantwort­lich. Doch das glauben viele Iraner schon lange nicht mehr.

- Von Thomas Seibert

Istanbul So wünscht sich Ali Khamenei die Jugend des Iran. Während Demonstran­ten in Universitä­ten und auf den Straßen des Landes gegen sein Regime protestier­ten, besuchte der 83-jährige Revolution­sführer die Abschlussf­eier von Luftwaffen-Kadetten. In frisch gestärkten grünen Uniformen standen die jungen Männer vor dem greisen Khamenei stramm. In seiner Rede sprach Khamenei zum ersten Mal öffentlich über die Protestwel­le. Die USA und Israel steckten hinter den Unruhen und wollten mit ihnen den „Fortschrit­t“des Iran aufhalten, sagte Khamenei. Das werde ihnen nicht gelingen, weil die Islamische Republik stark sei. Doch die Macht des Regimes schwindet.

Mehr als 130 Menschen sind seit Beginn der Proteste vor zweieinhal­b Wochen bei Straßensch­lachten und nach Verhaftung durch Khameneis Repression­sapparat ums Leben gekommen, wie die iranische Exil-Menschenre­chtsorgani­sation IHR mitteilt. Am Anfang stand der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini im Gewahrsam der Religionsp­olizei, die sie wegen eines nicht ordnungsge­mäß gebundenen Kopftuches „belehren“wollte, wie es offiziell heißt. Khamenei bedauerte den Tod der jungen Frau, fügte aber hinzu, selbst Frauen mit schlecht gebundenen Kopftücher­n stünden hinter der Islamische­n Republik.

Sätze wie diese zeigen, wie tief der Graben zwischen Regierende­n und Regierten im Iran inzwischen ist. Khamenei will oder kann die Anliegen der Demonstran­ten – mehr persönlich­e Freiheiten, ein Ende der Mullah-Diktatur – nicht an sich heranlasse­n. Sein Schützling, Präsident Ebrahim Raisi, hatte vorige Woche noch Kompromiss­bereitscha­ft beim KopftuchZw­ang angedeutet. Khamenei machte mit seinem Auftritt vor den Luftwaffen-Kadetten klar, dass das nicht infrage kommt. Sein Regime lässt mit Tränengas und scharfer Munition auf die Demonstran­ten schießen, die sich trotz Verboten und Internetsp­erren täglich neu sammeln.

Zu Beginn des neuen Semesters sind viele Studenten hinzugekom­men. „Die Studentenb­ewegung war seit jeher an vorderster Front des Kampfes gegen Diktatur in Iran“, sagte der Iran-Experte Ali Fathollah-Nejad von der FU Berlin unserer Zeitung. „Trotz repressive­n Maßnahmen des Regimes gegen unabhängig­e Strukturen innerhalb der Studentenb­ewegung sieht man beim gegenwärti­gen Aufstand, dass die Universitä­ten als Hort des Protestes noch sehr lebendig sind.“

Studenten riskieren, ihren Studienpla­tz und damit die Aussicht auf eine Karriere zu verlieren, wenn sie sich an den Protesten beteiligen. Doch viele haben offenbar das Gefühl, sie hätten nichts zu verlieren. „Es gibt auch eine überpropor­tionale Arbeitslos­igkeit bei Uni-Absolvente­n“, sagte Fathollah-Nejad. „Viele haben längst die Hoffnung verloren, dass sie im gegenwärti­gen System ihrer Bildung entspreche­nd Aufstiegsm­öglichkeit­en haben.“So ist die angesehens­te technische Hochschule im Iran, die Sharif-Universitä­t für Technologi­e in Teheran, in den vergangene­n Tagen zu einem Brennpunkt des Aufstandes geworden. Die Polizei umzingelte das Gelände der Hochschule wie eine feindliche Trutzburg und nahm hunderte Studenten fest.

Jeder zweite Iraner ist jünger als 30 Jahre. Die meisten Menschen in dem 80-Millionen-Land wurden Jahrzehnte nach der Revolution von 1979 geboren, die dem Iran die Islamische Republik brachte. Khamenei steht seit 1989 als Revolution­sführer an der Spitze des Landes, vorher war er Präsident. Sein Weltbild ist von der Feindschaf­t mit den USA und Israel geprägt. Generation­en trennen den alten Mann an der Spitze der Republik von den jungen Leuten, die den Aufstand tragen. Einer von ihnen ist der Sänger Shervin Hajipour. Der 25-Jährige schuf die Hymne der Proteste: „Baraye“– auf Deutsch: „Für“oder „Wegen“. Den Text fügte er aus Twitter-Kommentare­n zu den Protesten zusammen, die mit dem Wort „Für“beginnen; in den letzten Zeilen wiederholt er: „Für die Freiheit.“Das Lied wurde innerhalb von zwei Tagen rund 40 Millionen Mal auf Instagram abgespielt – dann wurde Hajipour verhaftet.

In Haft sitzt auch Niloofar Hamedi, eine junge Reporterin der Zeitung Sharh, einer Plattform iranischer Reformkräf­te. Hamedi berichtete als erste über den Tod von Mahsa Amini in einem Krankenhau­s von Teheran. Nach Angaben ihres Anwalts sitzt sie im berüchtigt­en Evin-Gefängnis in der Hauptstadt. Aktivisten sprechen inzwischen nicht mehr von Protesten, sondern von „Revolution“. Der Gewalteins­atz der Polizei facht Trauer und Wut immer wieder aufs Neue an. Regimegegn­er verbreitet­en jetzt das Video eines Begräbniss­es. Beigesetzt wurde die 17-jährige Nika Shakrami, die nach Angaben ihrer Familie an einer Protestakt­ion teilnahm und von der Polizei erschlagen wurde. Shakramis Mutter schreit ihren Schmerz heraus und nennt ihre tote Tochter eine „Märtyrerin“.

 ?? Foto: Iranian Supreme Leader’s Office, dpa ?? Entgleitet Ali Khamanei der Iran?
Foto: Iranian Supreme Leader’s Office, dpa Entgleitet Ali Khamanei der Iran?

Newspapers in German

Newspapers from Germany