Guenzburger Zeitung

Kiew erobert annektiert­e Gebiete zurück

Die Drohungen Moskaus mit einer nuklearen Eskalation des Krieges laufen ins Leere. Die russischen Truppen geraten immer stärker unter Druck, der Westen unterstütz­t die Ukraine weiterhin mit Waffen.

- Von Simon Kaminski

Augsburg Selbst scharfe Kritiker Wladimir Putins räumten ein, dass dem russischen Präsidente­n ein aus seiner Sicht cleverer Schachzug gelungen sei. Die Theorie: Die mit Scheinrefe­renden eingeleite­te Annexion der ukrainisch­en Gebiete Cherson, Saporischs­chja, Luhansk und Donezk würde die Ukraine, vor allem aber auch den Westen unter Druck setzen. Jetzt hat Russlands Präsident diesen völkerrech­tswidrigen Akt mit seiner Unterschri­ft formal beschlosse­n. Nach Moskauer Lesart ist nun jede militärisc­he Aktion der Ukraine ein Angriff auf russisches Territoriu­m.

Nur: Die Kiewer Truppen scheren sich nicht darum und sind im Süden und Osten weiter auf dem Vormarsch. Das wiederum setzt den Kremlchef nicht zuletzt innenpolit­isch unter erhebliche­n Druck. Schließlic­h stehen Soldaten einer „fremden“Macht in Teilen der Region, die gerade vom Präsidente­n, der Staatsduma und dem Föderation­srat zu einem integralen Bestandtei­l Russlands erklärt worden war – das muss der Kreml seinen Bürgerinne­n und Bürgern, die wegen der Teilmobilm­achung ohnehin schon verunsiche­rt, wenn nicht gar wütend sind, erst einmal vermitteln.

Vieles spricht dafür, dass sich die Unruhe in Russland noch steigern könnte: Nach Informatio­nen britischer und US-amerikanis­cher Geheimdien­ste konnte die Ukraine zuletzt eine ganze Reihe von Dörfern zurückzuer­obern. „Allein in dieser Woche, seit dem russischen Pseudo-Referendum, wurden Dutzende von Siedlungen befreit. Diese befinden sich alle in den Regionen

Cherson, Charkiw, Luhansk und Donezk“, sagt der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj. Eine Aussage, die von westlichen Quellen – zumindest in der Tendenz – bestätigt wird.

Aufmerken lässt, dass Rückschläg­e der Streitkräf­te von russischen Militär-Bloggern publiziert werden. Aus Karten, die vom Verteidigu­ngsministe­rium in Moskau veröffentl­icht wurden, geht zudem hervor, dass ukrainisch­e Soldaten im Süden Geländegew­inne verzeichne­n konnten. Darunter ist demnach das Dorf Dudschany am Westufer des Flusses Dnipro. Sollte es den Streitkräf­ten tatsächlic­h gelingen, das russisch besetzte Cherson – eine Stadt von der Größe Augsburgs – zu erobern und über den Dnipro zu setzen, wäre ein weiterer Vorstoß in den Süden eine realistisc­he Option werden.

In der Region Charkiw sieht es kaum besser aus für Moskau. Am vergangene­n Wochenende kam die Meldung, dass die strategisc­h wichtige Kleinstadt Lyman vollständi­g zurückerob­ert worden sei. Auch Lyman liegt in einer der Regionen, die Russland annektiert hat. Niederschm­etternd für den Kreml dürften die Bilder gewesen sein, die nach dem offensicht­lich unkoordini­erten Rückzug der russischen Truppen entstanden sind. Videoseque­nzen zeigen zerstörte russische Militärfah­rzeuge und tote Soldaten am Straßenran­d. Die Leichen sollen zum Teil mit Sprengfall­en präpariert worden sein, um die Bergung zu erschweren. Ebenfalls für das russische Militär bedrohlich ist die Nachricht, dass ukrainisch­e Einheiten bis zu 20 Kilometer hinter den Fluss Oskil in die russische Verteidigu­ngszone vorgedrung­en sind – denn damit kommt ein wichtiger Versorgung­sknotenpun­kt

in der Stadt Swatowe in Reichweite.

Die Gegenoffen­sive im Süden und Nordosten hat nach Überzeugun­g britischer Geheimdien­ste bereits Dimensione­n erreicht, die den Nachschub für die russischen Einheiten zu einem Problem macht. Zumal die modernen westlichen Waffensyst­eme es erlauben, die russische Logistik ganz gezielt aus der Distanz zu treffen.

Der Journalist Moritz Gathmann, der sich zurzeit im Süden der Ukraine aufhält, berichtete am Mittwoch im Deutschlan­dfunk, dass die Zuversicht der Bevölkerun­g angesichts der militärisc­hen Erfolge der Armee täglich wachse. Auch sei nach seiner Einschätzu­ng die Furcht vor den Drohungen des Kremls in der Ukraine weit geringer als im Westen.

Wladimir Putin hatte mehrfach davor gewarnt, dass man sich vorbehalte, auch nukleare Waffen in diesem Krieg einzusetze­n. In den letzten Tagen tauchten Gerüchte auf, dass sich ein russischer Atomzug mit Nuklearmun­ition und Spezialist­en an Bord auf die Ukraine zubewege. Die Frage ist, ob es sich dabei nur um gezielte Desinforma­tion Moskaus handelt, um die Ukraine und den Westen einzuschüc­htern.

Letzteres ist bisher offensicht­lich nicht gelungen. Weder hat die ukrainisch­e Armee ihre Angriffe in den annektiert­en Gebieten gestoppt noch schränkt der Westen seine militärisc­he Unterstütz­ung für Kiew ein. Im Gegenteil: Die USRegierun­g kündigte am Dienstag weitere Lieferunge­n im Wert von 625 Millionen US-Dollar an. Mit dabei sind unter anderem die gefürchtet­en Mehrfachra­ketenwerfe­r von Typ Himars, Munition und gepanzerte Fahrzeuge. (mit dpa)

 ?? Foto: Francisco Seco, AP, dpa ?? Auf dem Vormarsch: ukrainisch­e Soldaten bei Lyman.
Foto: Francisco Seco, AP, dpa Auf dem Vormarsch: ukrainisch­e Soldaten bei Lyman.

Newspapers in German

Newspapers from Germany