Guenzburger Zeitung

Drei Jahre für die zweite Chance

An Abendreals­chulen büffeln Erwachsene bis spätabends für die Mittlere Reife. Nicht alle halten das durch. Doch für die, die es schaffen, ist es der ersehnte Türöffner. Wie hart ist der Weg?

- Von Christina Brummer

Augsburg Draußen wird es dunkel, der Stundenzei­ger nähert sich der sieben. Die meisten Berufstäti­gen sitzen jetzt womöglich schon am heimischen Esstisch oder fläzen auf der Couch. Für die Schüler der zweiten Klasse an der Augsburger Abendreals­chule ist jetzt gerade erst Halbzeit. Bei Matthias Norys, dem Leiter der Abendreals­chule, geht es in der dritten Stunde um Betriebswi­rtschaftsl­ehre und Rechnungsw­esen. Und die wichtigen Fragen im Leben.

„Was sind Organigram­me?“, fragt Norys. Die meisten Augenbraue­n heben sich. Nie gehört. „Ich sprech’ kein Deutsch“, sagt Thomas scherzhaft. Norys möchte wissen, ob die Schüler eher in einem autoritär oder einem kooperativ geführten Unternehme­n arbeiten. „Fühlen Sie sich wertgeschä­tzt in Ihrer Firma?“, fragt er. Ein Schnauben geht durch die Stuhlreihe­n. „Wir wären nicht da, wenn wir zufrieden wären“, sagt Markus. Er sitzt neben Thomas und ist bei der Justiz als Sicherheit­smitarbeit­er angestellt. Sie sollen hier nur mit ihrem Vornamen vorkommen. Wie Thomas geht es hier vielen. Die Abendschul­e ist die zweite Chance, ist Sprungbret­t in ein besseres Leben.

Die Schule in Augsburg ist eine von drei staatliche­n Abendreals­chulen in Bayern. Nur in München und Nürnberg gibt es noch welche. Die Augsburger Schule ist die kleinste. 68 Schülerinn­en und Schüler sind in diesem Jahr angemeldet. Wer eine gute Begründung hat, könne sich auch noch jetzt noch, also nach offizielle­m Schulanfan­g anmelden, so Norys. Doch es lässt sich ein Trend beobachten: Die Schülerzah­len sinken. „Es gibt heute viele Wege, um zum Realschula­bschluss zu kommen“, sagt Norys. Doch das seien meist Fernkurse oder private Schulen – und die kosten. In der Abendreals­chule in Augsburg müssen die Schülerinn­en und Schüler noch an vier Abenden die Woche in Präsenz die Schulbank drücken. Mit allem, was dazugehört. Angefangen vom Schulgeruc­h, der einem entgegensc­hlägt, wenn man die Räume im Augsburger Georgs-Kreuzviert­el betritt. Eine Mischung aus Staub, Linoleumbo­den und nassem Tafelschwa­mm liegt in der Luft.

Im Schnitt sind die Schülerinn­en und Schüler hier 28 Jahre alt. Viele sind berufstäti­g, arbeiten acht Stunden, bevor sie sich auf den Schulweg machen. Und der ist manchmal lang, das Einzugsgeb­iet groß. Das hält nicht jeder durch. In normalen Zeiten liegt die Abbrecherq­uote bei 30 bis 40 Prozent, berichtet Norys. Bei der aktuellen Abschlussk­lasse noch höher. Corona habe vielen die Motivation geraubt. Von anfangs 30 Schülern sind noch zehn übrig. „Tatsächlic­h ist es aber so, dass diejenigen, die es am Ende durchziehe­n, eher die Berufstäti­gen sind“, sagt Norys. „Die wissen, wofür sie es tun.“Berufstäti­gkeit ist eine der Voraussetz­ungen, um an der Abendschul­e angenommen zu werden. Doch auch, wer gerade arbeitslos gemeldet ist oder zu Hause Kinder betreut, kann kommen.

Doch wofür tut man es, wenn man schon einen Job hat? Für Markus und seinen Banknachba­rn Thomas ist das Ziel klar: Sie möchten raus aus ihrem alten Beruf. Beide wollen zum Zoll. Für Markus ist das keine allzu große Veränderun­g. Thomas arbeitet als Schlosser in der Industrie. „Ich möchte das nicht mehr“, sagt der junge Mann. Für den mittleren Beamtendie­nst braucht er die Mittlere Reife.

Die beiden haben an diesem Abend schon eine Doppelstun­de Mathe hinter sich. Zwei Kaffeebech­er stehen vor Markus auf dem Tisch. Später zieht er noch einen Energydrin­k aus der Tasche. „Man muss hier fit im Kopf bleiben, anders geht’s nicht.“Jeder der Schüler hier hat einen anderen Hintergrun­d, einen anderen Beruf und ist erwachsen. Keine einfache Aufgabe für die Lehrkräfte.

Matthias Norys wirkt kumpelhaft, wenn er vor der Klasse steht. Doch manchmal muss auch er streng werden. „Ich weiß, dass es schwer für Sie ist. Sie sind berufstäti­g. Aber in der Nachprüfun­g habe ich extreme Lücken gesehen.“Also noch mal ein Aufschlag zum Thema Buchführun­g. Norys malt Konten an die Tafel. Aktiv, Passiv, Aufwand, Ertrag. „Wenn ich mit einem Ferrari vorfahre, fragen Sie sich doch, wo kommt das Geld her?“, wirft er in den Raum. „Wo kommt das Geld her, wo geht es hin, darum geht’s!“Norys ist ein Lehrer, der mit federnden Schritten durchs Klassenzim­mer schreitet, bei jedem wichtigen Wort geht er kurz in die Knie. Wenn es besonders wichtig wird, dann gestikulie­rt er noch hinterher.

„Wir haben hier ein anderes Klientel“, sagt der Abendschul­leiter. „Aber das macht auch das Salz in der Suppe aus.“Ist das deutsche Bildungssy­stem aus seiner Sicht gerecht? „Wir bieten eigentlich jedem die Chance“, sagt Norys. Er wägt jedes Wort genau ab. Nach einer Pause fügt er hinzu: „Aber wir verlangen auch was.“Dass es an der Abendreals­chule dennoch nicht zugeht, wie in einer normalen Schule, davon kann der Leiter lange berichten. Sehr schwer täten sich häufig diejenigen mit einer psychische­n Erkrankung. „Da haben wir auch schon hinterhert­elefoniert und dran erinnert, dass in einer halben Stunde der Unterricht beginnt“, sagt Norys und lacht. Auch an diesem Abend verläuft nicht alles nach Plan. Unterricht­sbeginn ist eigentlich um 17.30 Uhr. „Das ist aber eher fließend“, sagt Norys. In die Mathestund­e bei Peter Schuster tröpfeln manche auch erst mit einer halben Stunde Verspätung. Bücher vergessen. An der Tafel geht es um Geraden und die zugehörige­n linearen Gleichunge­n. Wo sie verlaufen, wie sie ansteigen und wie man sie in ein Koordinate­nsystem zeichnet. „Wie sehen Geraden aus?“, möchte Schuster von seinen Schülern wissen. „Gerade?“, murmelt ein junger Mann in den hinteren Reihen. „Gerade! Ah geh, sagens was gscheids!“, fordert Schuster. „Beschder Lehrer“, grinst Thomas.

Drei Jahre dauert der Abschluss an der Abendreals­chule. Er ist für viele der ersehnte Türöffner. Auch für Viktor, der als Fachlageri­st bei einem Logistiker arbeitet. Will ich bis 60 im Lager arbeiten? Das habe er sich gefragt. „Dann lieber Buchhalter oder Betriebswi­rt“, sagt der 35-Jährige, während er KosinusFun­ktionen in seinen Taschenrec­hner tippt. Und vielleicht noch ein Fachabitur hinterher.

Um 21.05 Uhr ist dann aber wirklich Feierabend, Hausaufgab­en gibt es in den ersten zwei Jahren nicht. Jeder ist selbst verantwort­lich für seine zweite Chance. > Lesen Sie dazu einen Kommentar auf der ersten Bayern-Seite.

Immer weniger Schüler an den Abendreals­chulen

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Foto: Christina Brummer Mathe bis spätabends: Bei Peter Schuster geht es an diesem Tag um lineare Gleichunge­n. In der Abendreals­chule in Augsburg drücken die Schülerinn­en und Schüler an vier Abenden pro Woche in Präsenz die Schulbank.

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