Drei Jahre für die zweite Chance
An Abendrealschulen büffeln Erwachsene bis spätabends für die Mittlere Reife. Nicht alle halten das durch. Doch für die, die es schaffen, ist es der ersehnte Türöffner. Wie hart ist der Weg?
Augsburg Draußen wird es dunkel, der Stundenzeiger nähert sich der sieben. Die meisten Berufstätigen sitzen jetzt womöglich schon am heimischen Esstisch oder fläzen auf der Couch. Für die Schüler der zweiten Klasse an der Augsburger Abendrealschule ist jetzt gerade erst Halbzeit. Bei Matthias Norys, dem Leiter der Abendrealschule, geht es in der dritten Stunde um Betriebswirtschaftslehre und Rechnungswesen. Und die wichtigen Fragen im Leben.
„Was sind Organigramme?“, fragt Norys. Die meisten Augenbrauen heben sich. Nie gehört. „Ich sprech’ kein Deutsch“, sagt Thomas scherzhaft. Norys möchte wissen, ob die Schüler eher in einem autoritär oder einem kooperativ geführten Unternehmen arbeiten. „Fühlen Sie sich wertgeschätzt in Ihrer Firma?“, fragt er. Ein Schnauben geht durch die Stuhlreihen. „Wir wären nicht da, wenn wir zufrieden wären“, sagt Markus. Er sitzt neben Thomas und ist bei der Justiz als Sicherheitsmitarbeiter angestellt. Sie sollen hier nur mit ihrem Vornamen vorkommen. Wie Thomas geht es hier vielen. Die Abendschule ist die zweite Chance, ist Sprungbrett in ein besseres Leben.
Die Schule in Augsburg ist eine von drei staatlichen Abendrealschulen in Bayern. Nur in München und Nürnberg gibt es noch welche. Die Augsburger Schule ist die kleinste. 68 Schülerinnen und Schüler sind in diesem Jahr angemeldet. Wer eine gute Begründung hat, könne sich auch noch jetzt noch, also nach offiziellem Schulanfang anmelden, so Norys. Doch es lässt sich ein Trend beobachten: Die Schülerzahlen sinken. „Es gibt heute viele Wege, um zum Realschulabschluss zu kommen“, sagt Norys. Doch das seien meist Fernkurse oder private Schulen – und die kosten. In der Abendrealschule in Augsburg müssen die Schülerinnen und Schüler noch an vier Abenden die Woche in Präsenz die Schulbank drücken. Mit allem, was dazugehört. Angefangen vom Schulgeruch, der einem entgegenschlägt, wenn man die Räume im Augsburger Georgs-Kreuzviertel betritt. Eine Mischung aus Staub, Linoleumboden und nassem Tafelschwamm liegt in der Luft.
Im Schnitt sind die Schülerinnen und Schüler hier 28 Jahre alt. Viele sind berufstätig, arbeiten acht Stunden, bevor sie sich auf den Schulweg machen. Und der ist manchmal lang, das Einzugsgebiet groß. Das hält nicht jeder durch. In normalen Zeiten liegt die Abbrecherquote bei 30 bis 40 Prozent, berichtet Norys. Bei der aktuellen Abschlussklasse noch höher. Corona habe vielen die Motivation geraubt. Von anfangs 30 Schülern sind noch zehn übrig. „Tatsächlich ist es aber so, dass diejenigen, die es am Ende durchziehen, eher die Berufstätigen sind“, sagt Norys. „Die wissen, wofür sie es tun.“Berufstätigkeit ist eine der Voraussetzungen, um an der Abendschule angenommen zu werden. Doch auch, wer gerade arbeitslos gemeldet ist oder zu Hause Kinder betreut, kann kommen.
Doch wofür tut man es, wenn man schon einen Job hat? Für Markus und seinen Banknachbarn Thomas ist das Ziel klar: Sie möchten raus aus ihrem alten Beruf. Beide wollen zum Zoll. Für Markus ist das keine allzu große Veränderung. Thomas arbeitet als Schlosser in der Industrie. „Ich möchte das nicht mehr“, sagt der junge Mann. Für den mittleren Beamtendienst braucht er die Mittlere Reife.
Die beiden haben an diesem Abend schon eine Doppelstunde Mathe hinter sich. Zwei Kaffeebecher stehen vor Markus auf dem Tisch. Später zieht er noch einen Energydrink aus der Tasche. „Man muss hier fit im Kopf bleiben, anders geht’s nicht.“Jeder der Schüler hier hat einen anderen Hintergrund, einen anderen Beruf und ist erwachsen. Keine einfache Aufgabe für die Lehrkräfte.
Matthias Norys wirkt kumpelhaft, wenn er vor der Klasse steht. Doch manchmal muss auch er streng werden. „Ich weiß, dass es schwer für Sie ist. Sie sind berufstätig. Aber in der Nachprüfung habe ich extreme Lücken gesehen.“Also noch mal ein Aufschlag zum Thema Buchführung. Norys malt Konten an die Tafel. Aktiv, Passiv, Aufwand, Ertrag. „Wenn ich mit einem Ferrari vorfahre, fragen Sie sich doch, wo kommt das Geld her?“, wirft er in den Raum. „Wo kommt das Geld her, wo geht es hin, darum geht’s!“Norys ist ein Lehrer, der mit federnden Schritten durchs Klassenzimmer schreitet, bei jedem wichtigen Wort geht er kurz in die Knie. Wenn es besonders wichtig wird, dann gestikuliert er noch hinterher.
„Wir haben hier ein anderes Klientel“, sagt der Abendschulleiter. „Aber das macht auch das Salz in der Suppe aus.“Ist das deutsche Bildungssystem aus seiner Sicht gerecht? „Wir bieten eigentlich jedem die Chance“, sagt Norys. Er wägt jedes Wort genau ab. Nach einer Pause fügt er hinzu: „Aber wir verlangen auch was.“Dass es an der Abendrealschule dennoch nicht zugeht, wie in einer normalen Schule, davon kann der Leiter lange berichten. Sehr schwer täten sich häufig diejenigen mit einer psychischen Erkrankung. „Da haben wir auch schon hinterhertelefoniert und dran erinnert, dass in einer halben Stunde der Unterricht beginnt“, sagt Norys und lacht. Auch an diesem Abend verläuft nicht alles nach Plan. Unterrichtsbeginn ist eigentlich um 17.30 Uhr. „Das ist aber eher fließend“, sagt Norys. In die Mathestunde bei Peter Schuster tröpfeln manche auch erst mit einer halben Stunde Verspätung. Bücher vergessen. An der Tafel geht es um Geraden und die zugehörigen linearen Gleichungen. Wo sie verlaufen, wie sie ansteigen und wie man sie in ein Koordinatensystem zeichnet. „Wie sehen Geraden aus?“, möchte Schuster von seinen Schülern wissen. „Gerade?“, murmelt ein junger Mann in den hinteren Reihen. „Gerade! Ah geh, sagens was gscheids!“, fordert Schuster. „Beschder Lehrer“, grinst Thomas.
Drei Jahre dauert der Abschluss an der Abendrealschule. Er ist für viele der ersehnte Türöffner. Auch für Viktor, der als Fachlagerist bei einem Logistiker arbeitet. Will ich bis 60 im Lager arbeiten? Das habe er sich gefragt. „Dann lieber Buchhalter oder Betriebswirt“, sagt der 35-Jährige, während er KosinusFunktionen in seinen Taschenrechner tippt. Und vielleicht noch ein Fachabitur hinterher.
Um 21.05 Uhr ist dann aber wirklich Feierabend, Hausaufgaben gibt es in den ersten zwei Jahren nicht. Jeder ist selbst verantwortlich für seine zweite Chance. > Lesen Sie dazu einen Kommentar auf der ersten Bayern-Seite.
Immer weniger Schüler an den Abendrealschulen