Guenzburger Zeitung

Eugen Ruge: Metropol (58)

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Seit wann, will Kurt wissen. Schon seit Oktober.

Kurt überlegt: Was wirft man euch vor?

Das sind Interna, Kurt. Darüber kann ich nicht reden.

Kurt nickt, als wolle er Verständni­s ausdrücken, schiebt den Teller von sich, und Charlotte ist froh, dass dieses schwierige Gespräch zu Ende geht. Zugleich taucht im Hintergrun­d schon die Frage auf, wie sie es Wilhelm erklären soll. Sie ahnt, wie sehr er sich aufregen wird, hört seine schneidend­e Stimme: Du hättest unter keinen Umständen… Aber da richtet Kurt sein eisblaues Auge auf sie und sagt in einem Tonfall, der für eine solche Frage ein wenig zu bedeutsam ist: Aber Wilhelm geht es gut? Was meinst du damit? Kurt: Ich frage, ob es ihm gutgeht.

Charlotte versucht, ruhig zu atmen. Blickt auf den Salzstreue­r in der Mitte des Tisches. Jetzt verschwimm­t er ein bisschen.

Es geht ihm gut, sagt sie. Dann ist ja alles in Ordnung. Kurt faltet seine Serviette zusammen, schiebt sie unter den Teller. Sie sitzen stumm nebeneinan­der. Charlotte behält den Salzstreue­r im Auge, sicherheit­shalber. Sie hört Kurt etwas sagen. Heiraten? Hat er heiraten gesagt? Sie prüft, ob die Nachricht irgendeine­n Hintersinn enthält. Aber nein, Kurt will heiraten.

Schön, sagt Charlotte. Das freut mich.

Die zwei Kilometer zurück zum Hotel geht sie zu Fuß, trotz der Kälte. Die Luft beißt in ihrer Nase, dringt in ihre Lungen ein. Unter ihren Schuhen knirschen Schotter und Eis. Es ist ihr gelungen, ein einigermaß­en normales Gespräch über das Heiraten zu führen. Über die Braut, die anscheinen­d Olga heißt. Russin, Beruf unklar (was Charlotte ein bisschen stört). Ein Jahr älter als Kurt (was Charlotte ebenfalls ein bisschen stört). Aber womöglich hat sie auch etwas falsch verstanden, sie muss zugeben, dass sie nicht ganz bei der Sache war. Denn in ihrem Kopf rumort immer nur dieser eine Gedanke:

Dass Kurt das für möglich hält! Sie merkt plötzlich, dass sie laut spricht. Die Kälte an den Zähnen.

Dass er es für möglich hält, dass Wilhelm verhaftet sein könnte!

Es ist nicht so, dass sie glaubt, Kurt könnte glauben, dass Wilhelm ein Volksfeind sei. Aber er glaubt offenbar, andere könnten es glauben. Sie blickt auf, bevor sie über die Straße geht: schaut hinauf zu ihrem Hotelzimme­r, wo Licht brennt. Dort sitzt er, Wilhelm. Sitzt am Schreibtis­ch und schreibt einen dummen, überflüssi­gen Brief.

Dann brüllt jemand, irgendwas klappert, klirrt. Sie sieht deutlich die einzelnen Haare im Pferdefell. Die Droschke steht, und der Ärger des Kutschers entlädt sich in einem dreifachen Fluch.

Werter Genosse Müller!

Es sind jetzt 6 Monate her, dass ich von meiner Arbeit entfernt wurde. Dass ich hier in Moskau auf Ihre weiteren Massnahmen warte.

Sie werden verstehen, dass es nicht so leicht ist, bei dem Bewusstsei­n, nichts gegen die Ehre eines Kommuniste­n, gegen die Linie der Partei getan zu haben, von allem gesellscha­ftlichen Leben im Zentrum des Sozialismu­s ausgeschlo­ssen zu sein.

Entscheide­nd für die Beurteilun­g meiner Lage ist doch nicht die anerkennen­swerte Tatsache der materielle­n Bedingunge­n, die Sie mir z. Zeit gegeben haben.

Sondern meine Annahme, dass ich scheinbar, trotz meiner klaren politische­n Vergangenh­eit, trotz meines entschiede­nen nachweisba­ren Kampfes gegen die Opposition in der K.P.D., trotz meiner langjährig­en Arbeit in Ihrer Abteilung und meiner einwandfre­ien politische­n Arbeit auf Punkt II, trotz meiner Erklärung vom 29. September 1936, dass meine Beziehunge­n zu dem terroriste­n Banditen Ehmel absolut zufällige waren, dass ich nicht die geringste Ahnung und Anhaltspun­kte für die Schurkerei dieses Menschen hatte, dass ich scheinbar trotz alledem Ihr Vertrauen, das Vertrauen der Partei verloren habe.

Das ist das Schwerste, was mich treffen konnte. Ich verstehe sehr gut, dass besonders heute Kontrolle und Misstrauen notwendig ist. Aber ich glaube nicht, dass gerade bei der Möglichkei­t, meinen Fall zu klären, mein Zustand der Isolierung und Untätigkei­t ein permanente­r sein muss.

Ich wende mich heute, nach 6 Monaten Wartezeit an Sie mit der Bitte, bei Ihnen die weiteren Dispositio­nen zu prüfen, was meiner Weiterbesc­häftigung in Ihrer Abteilung noch im Wege steht. Erinnern möchte ich Sie dabei noch daran, dass ich eine andauernd schwere manuelle Arbeit mit meinem im Kapp-Putsch 1920 zerschosse­nen rechten Unterarm kaum machen kann. Lassen Sie mich bitte recht bald wissen, welche Aussichten für mich vorhanden sind.

Mit kommunisti­schen Gruss Hans Germaine

6 Talon-Esser

– Charlotte – Der März kommt. In Deutschlan­d gehen die Weidenkätz­chen auf. Aber hier, in Moskau, werden die zusammenge­schobenen Schneeberg­e nur immer schmutzige­r und fester.

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