Guenzburger Zeitung

Fliegende Fackeln

Im europäisch­en Fußball kam es zuletzt verstärkt zu Gewaltexze­ssen. In Köln gibt es deshalb eine Polizeiraz­zia, in Frankreich eskaliert die Lage komplett. Beobachter fürchten Tote.

- Von Fabian Huber

Es könnte Tote geben. Man sagt das ja oft, besonders im Sport, und meint es nicht so. Doch der führende Polizeigew­erkschafte­r Michael Mertens wollte seine Worte wohl genauso verstanden wissen, als er dem Kölner Stadt-Anzeiger sagte: „Wenn sich nicht bald etwas ändere, ja, ,dann könnte es Tote geben’“. Und auch Michael Gabriel, der Koordinato­r der deutschen Fanprojekt­e, sprach im Deutschlan­dfunk von Glück, dass es „keine Toten gegeben hat“, vor kurzem, in Nizza.

Nizza, 8. September, Conference-League-Spiel gegen den 1. FC Köln: Auf den Rängen kommt es zu Ausschreit­ungen zwischen beiden Fanlagern. Ein Anhänger fällt fünf Meter tief vom zweiten Rang der Tribüne, überlebt nur knapp. Es gibt 32 Verletzte. Am Mittwochmo­rgen durchsucht­e die Kölner Polizei nun die Wohnadress­en einiger Tatverdäch­tiger.

Dortmund, 6. September: Fans der Borussia und des FC Kopenhagen bewerfen sich gegenseiti­g mit bengalisch­en Feuern. Auf dem Parkplatz kommt es nach der Partie

zu wüsten Schlägerei­en zwischen Fans der beiden Klubs.

Marseille, 13. September, Champions-League-Duell mit Eintracht Frankfurt: Wieder missbrauch­en beide Seiten Pyrotechni­k als Waffe. Ein deutscher Fan wird am Hals getroffen und schwer verletzt. Die Polizei nimmt 17 Personen fest.

Die Lage im europäisch­en Elitefußba­ll, sie ist todernst. Eskaliert da gerade etwas auf den Tribünen?

In französisc­hen Medien waren die Schuldigen schnell gefunden: Sie kamen aus dem Nachbarlan­d. Nizzas Bürgermeis­ter will dem 1. FC Köln eine Rechnung in fünfstelli­ger Höhe schicken. Deutsche Fans hätten Straßenbah­nen beschmiert, Wartehäusc­hen zerstört, die Stadt zugemüllt und die Statue des Apollo beschädigt. In Marseille warnte der Sportbürge­rmeister schon vor Anpfiff: „Es kommen gefährlich­e Menschen in diese Stadt.“Schulen und Geschäfte in Stadionnäh­e schlossen früher – aus Angst vor den Frankfurte­rn. Der französisc­he Sporthisto­riker Sébastian Louis sagte der Tageszeitu­ng Monde: „Die Hooligan-Kultur ist in Deutschlan­d sehr stark im Fußball verwurzelt.“

Klingelt man bei seinem deutschen Kollegen Gunter Pilz durch, hört man einen ähnlichen Satz, nur mit vertauscht­en Rollen. Der Sportsozio­loge spielt den Ball zurück über die Grenze: „Frankreich hat massive Probleme mit Ultras und Hooligans.“

Ja, was denn nun?

Seit Jahrzehnte­n forscht Pilz zu Fangewalt. Er kennt beide Seiten, ist Mitglied der Daniel-Nivel-Stiftung, gegründet vom deutschen und französisc­hen Fußballver­band, benannt nach einem Polizisten,

den deutsche Hooligans bei der WM 1998 in Frankreich ins Koma prügelten. Als Kopf einer Arbeitsgru­ppe der Stiftung sorgte Pilz dafür, dass Auswärtsbl­öcke in Frankreich­s Fußballsta­dien wieder einen Sinn haben. Vor wenigen

Jahren noch durften die zuständige­n Präfekten gegnerisch­e Fans von Spielen ausschließ­en. Pilz’ Projekt kippte die Regel, etablierte Fan- und Polizeispr­echer, genaue Absprachen. Die Fortschrit­te vor Corona seien ermutigend gewesen, sagt er. Dann kam der Rückfall.

Vor knapp einem Jahr sackt Marseilles Dimitri Payet bei einer Ecke zusammen. Eine Plastikfla­sche hatte ihn getroffen. Wie schon drei Monate zuvor. Die Regierung beruft ein Krisentref­fen ein, Flaschen in Stadien sind nun passé. Bei Hochrisiko­spielen sollen Netze aufgespann­t werden, um Wurfgescho­sse abzufangen. Als der Traditions­verein AS SaintÉtien­ne im Mai absteigt, stürmen Fans den Platz, Bengalos fliegen Richtung Spielertun­nel, zwei Gäste-Profis verletzten sich. Der Fan, der jüngst in Nizza abstürzte, war Pariser. Hooligans des Hauptstadt­klubs hatten sich unter die befreundet­en Kölner Ultras gemischt, um zu randaliere­n.

Seit dem Ende der Pandemiebe­schränkung­en sieht Pilz „neue Dimensione­n“der Gewalt in Frankreich. „Die Fans waren zwei Jahre völlig ausgeschlo­ssen. Das setzt Kräfte frei.“Kräfte, die sich laut Pilz verstärkt bei internatio­nalen Spielen Bahn brechen. Denn auch bei deutschen Fans hätte die Corona-Zeit „das Bedürfnis nach dem Freisetzen von Emotionen gestärkt.“

Nachfrage beim Europäisch­en

Fußballver­band Uefa: Ist das so? Als Antwort kommt lediglich ein schmallipp­iger Verweis auf die eigene Website. Rechnet man die Zahlen dort zusammen, kommt heraus: Champions-League-Vereine zahlten im August gut 170.000 Euro für das Fehlverhal­ten ihrer Fans – und damit fast doppelt so viel wie im November 2019, vor Corona. Die Klubs in der drittklass­igen Conference League mussten im August schon fast eine halbe Million Euro blechen. Die Uefa hat ihre Strafen nach oben geschraubt.

Und in der Bundesliga? Fanforsche­r Pilz sieht keine Gewaltzuna­hme.

Warum eskalieren die Situatione­n derzeit auf den Tribünen?

In der Bundesliga hat die Gewaltbere­itschaft nicht zugenommen

Aber: „Das Zündeln von Pyrotechni­k hat erheblich zugenommen.“Von der Deutschen Fußball Liga (DFL) ist Ähnliches zu hören: viel Feuer, aber kaum Gewalt.

In dieser Woche rollt der Ball wieder auf europäisch­em Rasen. Köln, das für die Ausschreit­ungen in Nizza 100.000 Euro Strafe zahlen musste, trifft auf Partizan Belgrad, einen Verein mit einschlägi­gem Randalo-Ruf. Alle hoffen auf guten Fußball. Auf Stimmung. Und insgeheim wohl auch darauf, dass es keine Toten gibt.

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Foto: Imago-Images Le 8. September, Auftritt des 1. FC Köln in Nizza, die Bilanz: Ein Fan, der fünf Meter von der Tribüne stürzte, insgesamt 32 Verletzte.

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