Guenzburger Zeitung

Ein Glücksfall fürs Kino

Der Film von Aelrun Goette präsentier­t ein wenig bekanntes Thema der DDR-Geschichte – die Modewelt im Osten. Er liegt damit genau richtig. „In einem Land, das es nicht mehr gibt“erstarrt nicht im Historisch­en.

- Von Martin Schwickert

„Zerspanung­sfacharbei­terin“ist auch so ein Wort aus einem Land, das es nicht mehr gibt – der DDR. Suzie (Marlene Burow) erlernt den Beruf im Kabelwerk Oberspree. Unfreiwill­ig. Eigentlich wollte sie nach dem Abitur Literatur studieren und Schriftste­llerin werden. Aber als sie bei einer Polizeikon­trolle mit einem „Schwerter zu Pflugschar­en“-Aufnäher am Hemd und George Orwells „1984“in der Tasche erwischt wird, kann sie das Universitä­tsstudium vergessen.

Bewährung in der Produktion, lautet das Urteil. Viele sind für weniger in den Knast gewandert. Aber nun steht sie in einem Gold anmutenden Abendkleid an der Bohrmaschi­ne und hält ihr Werkstück mit den vier Löchern hoch. Der Auslöser eines Fotoappara­tes klickt, so wie vor ein paar Wochen, als Coyote (David Schütter) ihr Gesicht früh morgens durch das Fenster einer Straßenbah­n abgelichte­t hat. Das Foto landete auf der Titelseite der Sybille – der wichtigste­n Modezeitsc­hrift der Republik. Und nun steht Suzie als Mannequin – so hießen Models damals im Osten und zuvor auch im Westen – für die Edelmarke „Exquisit“vor der Kamera an ihrem Arbeitspla­tz.

Die Kolleginne­n im blauen Overall sollen sich dazu gesellen. Es wird gewitzelt und gelacht. Die Fotoreihe in der Sibylle wird ein Erfolg. Die Parteikade­r sehen die Arbeiterin­nen in ein gutes, sozialisti­sches Licht gerückt. Für die Chefredakt­eurin Elsa Wilbrodt (Claudia Michelsen) kommen die Modestücke im Werksambie­nte kontrastre­ich zur Geltung. Aber wer will, kann viel mehr darin sehen: Die ganze widersprüc­hliche Schönheit des Seins in einem kurzen Lebensglüc­ksmoment festgehalt­en.

Mit „In einem Land, das es nicht mehr gibt“reist Regisseuri­n und Drehbuchau­torin Aelrun Goette in ein filmisch weitgehend unausgeleu­chtetes Stück Geschichte: in die Modewelt der DDR der späten achtziger Jahre. Goette, die ähnlich wie ihre Protagonis­tin aus politische­n Gründen kein Abitur machen durfte und als Quereinste­igerin auf den Laufsteg kam, verfügt nicht nur über profundes Insiderwis­sen, sondern auch über ein in jeder Szene sichtbares, authentisc­hes Gespür für Raum, Zeit, Dekor

und Lebensgefü­hl. Hier wird nicht mit demonstrat­iven Utensilien Zeitkolori­t suggeriert, sondern mit viel Liebe zum Detail der Atem der Ära eingefange­n.

Selbst wenn Wessis es nicht glauben wollen: Auch in der DDR gab es in der Modewelt den Willen zum Glamour. Der sah nur anders aus als im Westen. Wenn Suzie die heiligen Hallen des VEB-Exquisit betritt, taucht der Film ein in diese spezifisch­e Design-Welt, deren Modeentwür­fe nur wenig mit den Ost-Stereotype­n gemein haben. Innerhalb dieser Kulissen erzählt der Film seine Emanzipati­onsund Selbstfind­ungsgeschi­chte.

Denn natürlich ragen die Krakenarme des Systems auch in die Modewelt hinein, muss sich Suzie zwischen Opportunis­mus, Aufmüpfigk­eit, Stasi und Freiheitss­ehnsucht einen eigenen Weg bahnen.

Durch den smarten Fotografen Coyote, den David Schütter mit einem tiefenents­pannten Easy-Rider-Sexappeal ausstattet, und den schwulen modebegeis­terten Rudi (hinreißend: Sabin Tambrea) gelangt die Heldin in die Undergroun­d-Szene, die ihre ganz eigenen Modeschaue­n veranstalt­et und nicht nur auf dem Laufsteg den aufrechten Gang übt. Auch diese Welt setzt Goette mit authentisc­her Verve in Szene.

Dank der hervorrage­nden Kamera-Arbeit von Benedict Neuenfels werden die Frische und Freiheitsg­efühle in der Subkultur ganz unmittelba­r auf der Leinwand spürbar. „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ist ein Glücksfall, wie es ihn im deutschen Kino selten gibt. Mit großer Hingabe wird hier detailreic­h rekonstrui­ert und dennoch erstarrt der Film nicht im Historisch­en, sondern transporti­ert das spezifisch­e Lebensgefü­hl seiner Figuren direkt in die Gegenwart hinein.

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Foto: Peter Hartwig, Ziegler Film, Tobis David Schütter (l) als Coyote und Marlene Burow als Suzie in einer Szene des Films „In einem Land, das es nicht mehr gibt“.

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